: Die Auferstehung eines Elefanten
Die Oper und die Revolution: Beider Pathos erscheint heute unglaubhaft. In Hannover ist Peter Konwitschny die Inszenierung von Luigi Nonos Arbeiteroper „Al gran sole carico d’amore“ dennoch gelungen. Dafür feierte ihn das Publikum dann zu Recht
VON BENNO SCHIRRMEISTER
Ausweglos. Von links und von rechts fahren die fahlen Mauern auf die hell bestrahlte Menschengruppe zu. Erbarmungslos wie ein Fallbeil in Zeitlupe senkt sich eine Metallwand eisengrau vor die Szene. Man versucht sich noch zu retten, der eine steigt auf den anderen, erklimmt die glatten Wände, rutscht ab, wird Leiter des Nächsten, Panik, der Chor zerfällt in zahllose Einzelstimmen, verdichtet sich erneut – zum Schrei. Stille.
Nur durch eine schmale Pforte fällt noch ein Lichtstrahl in den Zuschauerraum der Staatsoper Hannover. Ein Schatten zieht vorüber, scheint sich aufzulösen, während ein Sopran „also kämpfen wir“ intoniert: vibratolos, extrem lyrisch, aber wie aus großer Ferne. Kein munter gesungener Appell, sondern vergehende Klage. Das ist g-Moll, die einzige bestimmbare Tonart in Luigi Nonos so genannter szenischer Aktion „Al gran sole carico d’amore“. Eine Jenseits-Tonart: In ihr straft bei Mozart und Händel Jehova sein Volk. Und Giuseppe Verdi hatte sie einst für sein säkulares Requiem gewählt. Die Tür schlägt zu. Stille und Dunkelheit. Ende der Vorstellung.
Mit der Inszenierung von „Al gran sole carico d’amore“ setzt der Opernregisseur Peter Konwitschny Maßstäbe. Extrem ist die musikalische Präzision seiner Regie: Unkonventionell, mit starken Bildern, und doch ist da kein Schritt, keine Geste, kein Fingerzeig, der nicht im Dienst der Partitur stünde – das zu wiederholen dürfte selbst ihm nicht leicht fallen. Mit euphorischem Jubel bedankt sich das Publikum: keine Selbstverständlichkeit in Hannover, wo man bis zur Intendanz von Albrecht Puhlmann museales Musiktheater gewöhnt war. Puhlmanns radikal zeitgenössische Auffassung von Oper bestrafte das Stammpublikum mit Buhs. Und mit Abwanderung. Doch der 47-Jährige blieb seiner Linie treu. Jetzt sekundierte er als Dramaturg Konwitschny, dem mit bedingungslos strengem Ansatz eine wegweisende Inszenierung von Nonos zweitem Bühnenwerk gelingt.
Auch das ist keine Selbstverständlichkeit. Denn „Al gran sole“ ist Oper und Anti-Oper zugleich, eine mit modernistischer Wut gefügte postmoderne Collage. Ihr Libretto liest sich wie ein wüst kompiliertes Poesiealbum der Arbeiterbewegung. Szenen im engeren Sinne fehlen, Regieanweisungen gibt es nicht. Die Personen stammen aus Literatur und Leben gleichermaßen: da trifft Louise Michel, die Heldin der Pariser Commune, auf Lenin, ihren Analysten. Und auch auf ihre Wiedergängerin Tanja Bunke, die mit Che Guevara in Bolivien starb.
Nicht fehlen darf natürlich die Gorki-Brecht’sche Mutter, deren Sohn Pawel von Cesare Paveses Sozialismus-Muse Deola bezirzt wird. Eine Rolle, die Nono zu allem Überfluss auf vier Soprane verteilt. Sie singen: „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus“ („Kommunistisches Manifest“), sie singen: „Vereint müssen wir siegen“ (Kubanische Nationalhymne), sie singen: „Das rote Banner wird triumphieren“ (Bandiera Rossa). Nono selbst bezeichnete das Werk später, resignativ, als einen „Elefanten der Mittel“. Hatte er es damit nicht begraben? Kann man so etwas denn heute noch ernst nehmen?
Zumindest kann man daran aufs Verheerendste scheitern. Das hatte 1999 Travis Preston in Hamburg bewiesen. Er verwurstete die Vorlage zum poppigen Panoptikum der Spinner. Was an der Musik vorbeiging: Der Komponist war, als er Anfang der 1970er-Jahre an der Azione Scenica arbeitete, Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Italiens. Musikalisch war er unterwegs in Richtung eines Platonismus des Ohrs: Dem Klang der Stille gilt zunehmend sein Interesse. Seinem letzten theatralischen Werk, dem 1985 vollendeten „Prometeo“, gibt er den Untertitel „Tragedia dell’Ascolto“ – Tragödie des Hörens.
Nonos Kompositionen leben von der Ideologie, die sie doch beharrlich und unerbittlich selbstkritisch hinterfragen: Nicht aufgehoben ist das dialektische Problem von Individuum und Masse. Letztere hat in zwei hochkomplexen Chören ihren Auftritt. Den einen dirigiert unsichtbar Clemens Heil, den anderen agitiert Lenin (Stefan Schreiber). Dagegen, aber nicht ihr Gegensatz: Die Solo-Cantilenen, die auf dem Punkt maximaler Spannung abbrechen. Unerlöst, ein Glücksversprechen, uneingelöst.
Einen mit Lichtchen bestirnten Kosmos hat Helmut Brade dafür als kosmische Bühne entworfen: ein Raum für historische Konstellationen. Hier können die Commune von 1871 und die erste russische Revolution von 1905 einander problemlos begegnen, versetzt und erhellt durch Splitter von Arbeiteraufständen der 50er-Jahre und Vietnamkriegs-Fragmente.
Zunächst aber wölbt sich dieser Himmel über einem gläsernen Haus. Und in dem Haus, da sind zwei Bettchen. Darinnen ruhen zwei Mägdelein. Das eine hat, Schwarz auf Rot gedruckt, ein Che-Guevara-Poster an die Wand gehängt. Die Mädchen schrecken auf und erwachen zum revolutionären Traum. Seine Parolen schreiben sie an die Wände; schon bald werden sie ihn im Kriegsspiel austragen. Tackatackatáck! Der Teddy ist tot.
So beginnt die Oper in Hannover. Und schon hier wird klar: Konwitschny hat sie gerettet. Denn er lässt ihre Naivität zu. Er hat Figuren für sie gefunden: Meisterlich verbindet Yuko Kakuta backfischige Schwärmerei für Ches Phrasen mit reifem, voluminösem Gesang. Nicht minder authentisch spielt Janina Baechtle das Gehabe der älteren Schwester. Sie verehrt Louise Michel, glaubt an die Menschenliebe und korrigiert mit unbeirrbarem Sopran die orthografischen Fehler des Trotzköpfchens. Charakterskizze, mit der Konwitschny das enervierende 70er-Jahre-Figurensplitting überspielen kann: Später wird Yuko Kakuta in ganz anderer Rolle auf die Rückseite des Helden-Posters den Slogan „selbständig denken!“ notieren. Der Chor singt dazu ein Fragment der Internationale im Choralsatz.
Das ist ironisch, keine Frage. Aber eine sanfte Ironie, die das Pathos der Partitur erträglich macht, ohne es zu beschädigen. Ja, sie scheint sogar in ihren vom örtlichen Staatsorchester unter Johannes Harneit gleißend durchleuchteten Verästelungen aufzustrahlen.
Eine sanfte Ironie, die auch erlaubt, den Graben zum Publikum zu überbrücken: „Wir kommen wieder!“, diesen Slogan hatte das Volk von Paris noch im Untergang per Kreide an die Wand geschmiert. Daraus wird, kurz vor der Pause, ein „Kommen Sie wieder“.
Kommen Sie wieder! Das lässt sich auch als Stoßseufzer des Intendanten lesen. Denn bis zum Beginn der aktuellen Spielzeit war Albrecht Puhlmann alles andere als unumstritten in Hannover. „Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz“, ist Nono zufolge „das Entscheidende“. Das sei, so Puhlmanns Bekenntnis, „ein Leitgedanke“ auch seiner Arbeit. Revolutioniert hat er damit die deutsche Opernlandschaft. Die war gewohnt, die niedersächsische Hauptstadt nicht wahrzunehmen: Im vergangenen Jahr erreichte Hannover sensationell einen zweiten Platz in der jährlichen Kritiker-Umfrage, drei Produktionen erhielten Einladungen zum Edinburgh-Festival.
Nur: Das Stammpublikum wollte nicht aufwachen aus seinem wohligen Dauerdämmer. Blanker Hass schlug zumal dem von Puhlmann geförderten katalanischen Regisseur Calixto Bieïto entgegen, der für den Geschmack des Opernpublikums die Gewalt- und Sex-Szenen von Mozarts „Don Giovanni“ oder Verdis Splatter-Oper „Il trovatore“ zu wörtlich nahm. Und sogar zeigte! Skandal!
Die direkten Folgen: Morddrohungen, Hetze in der Lokalpresse und, wie gesagt, über 3.500 gekündigte Abos. Mittlerweile ist der Trend gestoppt. Es gebe, so eine Sprecherin der Oper, sogar wieder Zuwächse. Und sogar Bieïtos keck-feministische „La Traviata“ eröffnete die Saison mit einem Publikumserfolg.
Die alten Zuschauer allerdings sind nicht wieder gekommen. Mit einem kalkulierten Minus von jährlich rund 1,5 Millionen Euro schlägt die Abwanderung im Haushalt der Staatstheater GmbH zu Buche – was die Harmonie zwischen Schauspielintendant Wilfried Schulz und Puhlmann empfindlich gestört haben soll. Kennern zufolge war die gespannte Atmosphäre mit ein Grund dafür, dass der Opernchef im Spätherbst ohne langes Zögern das Angebot annahm, Klaus Zehelein in Stuttgart zu beerben. Bei der jüngsten Premiere könnte er den Entschluss erstmals bereut haben. Denn dem sperrigen Werk Nonos zollte das ausverkaufte Haus eine Viertelstunde lang stürmischen Beifall. Ein wahrer Triumph – als wäre die Revolution aus ihrem Scheitern wiedergeboren: Ein Elefant, einmal aufgewacht, ist ein überwältigendes Tier.