piwik no script img

Archiv-Artikel

Auf die Mischung kommt es an

betr.: „Nieder mit Goethe“ (Die Klassiker der deutschen Literatur sollten Schulverbot erhalten), taz vom 19. 6. 03

Ich stimme mit Ihnen überein, dass der Unterricht in deutschen Schulen den Schülern das Lesen verleidet. Allerdings ist dafür eher die Art des Unterrichts als der Entstehungszeitpunkt der literarischen Werke verantwortlich. Wer von Schülern enge literaturwissenschaftliche Interpretationen verlangt, ohne ihnen gleichzeitig den historischen Hintergrund (z.B. Autorenbiografien) zu vermitteln oder weite Interpretationsspielräume zu erlauben, erzeugt Frustration.

Es mangelt außerdem daran, aufzuzeigen, dass viele Probleme heute Parallelen oder Ursprung in der Geschichte haben. Begreift man Literatur als Anregung zu offenen, weiterführenden Gesprächen, kann sie extrem spannend werden. Warum nicht mal Goethes Faust unter dem Aspekt der Drogenproblematik oder Schillers Räuber unter dem Gesichtspunkt von Jugendrebellion behandeln? In einem freizeitlich organisierten Literaturkreis fand ich heraus, dass die Klassiker oftmals wesentlich mehr Gesprächsstoff boten als unsere zeitgenössischen JungautorInnen. Eine ordentliche Mischung aus aktueller und klassischer Literatur kann spannender sein als eine völlige Abkehr von den Klassikern. […] Der Erfolg von Shakespeare im Kino der letzten Dekade zeigt, dass es mehr an der Vermittlung als an der Vorlage liegt, ob Jugendliche ein Interesse für Literatur entwickeln. […]

SEBASTIAN SCHLEICHER, Berlin

Selbstverständlich kommt kein Pauker auf den verrückten Dreh, 13-Jährige mit „Faust“ zu quälen, das passiert in der Oberstufe, und da sollte das Leseverhalten eigentlich bereits so gefestigt sein, dass es einen Klassiker verträgt. Wer zu Hause nicht zum Lesen angehalten wird (mit adäquatem Material, Pippi, Potter etc.), dem ist in der Schule schwerlich zu helfen, da helfen dann auch nicht 100-prozentig die modernen Autoren; wer wäre das denn z.B.?

Bleibt festzustellen: Wir sollten unsere Klassiker aus dem Kinderzimmer raushalten (außer Max & Moritz, Struwwelpeter, Robinson Crusoe, Schatzinsel, Heldensagen, Lindgren und natürlich all dem anderen, was Spaß macht …) Und wenn die Kleinen danach, und nach geduldigem, jahrelangem gemeinsamem regelmäßigem Vorlesen dann in der Oberstufe an den Klassikern scheitern – ja dann: dann ist was schief gelaufen, aber nicht in der Deutschstunde … REINARD SCHMITZ, Hochdorf

Kein Zweifel sollte daran gelassen werden, dass unser lieber Goethe in der 8. oder 9. Klasse etwas verfrüht in Erscheinung tritt. Doch dass jeder Oberstufenschüler jetzt argumentieren kann, der alte Opa sei voll doof und langweilig, dass die Literatur spannend wie ein Comic erscheinen soll und so komische alte Sprachen überflüssig geworden sind, das wird die Pisa-Verantwortlichen wundern. Gerade vor dem Hintergrund heutiger Modesprachen lassen sich z. B. Alt- und Mittelhochdeutsch spannend darstellen, der Wille, etwas zu verstehen, wecken. Außerdem wirkt die ständige Kritik an dem faulen Lehrer etwas abgedroschen: ob nun 25 Seiten Goethe oder Benjamin von Stuckrad-Barre korrigiert werden, in beiden Klausuren wird sich zeigen, dass die Eltern das Leseverhalten ihres Sprösslings wenig unterstützt haben. Es ist viel weniger die fachliche als die pädagogische Faulheit der Lehrer, die den Schülern das Lesen vermiest!!

Bei einer freiwilligen Abstimmung in unserem Kurs haben wir uns für Goethe entschieden – und viele haben sich gerade nach dem Abitur den 2. Teil gekauft. CORINNA GIESE, Bremen

Es ist ja nun schon ein paar Jahre her, dass ich mein (zugegebenermaßen Ost-)Abi gemacht habe (15 Jahre). Ich glaube trotzdem nicht, dass sich die Welt seitdem so stark verändert hat, derartige Revolutionen zu postulieren. Auch zu meiner Zeit war besagter Herr schon ein Weilchen tot und doch nicht lehrplanmäßig totzukriegen.

Von den Beschränkungen des Ostens abgesehen, denke ich nicht mit Goethe erschlagen worden zu sein. Neben ihm fanden dann durchaus auch andere Autoren und Autorinnen Platz. […]

Jeder Mode hinterherzurennen kann auch unterfordern. […] Hin und wieder sollte jede Schülergeneration schon mal einen sie fordernden Satz lesen, egal ob die Person 500, 200, 10 Jahre oder noch gar nicht tot ist. STEFAN POHNER, Berlin

Selten so einen Unsinn gelesen. Was ist eigentlich mit Zehn-, Zwölfjährigen, die ganz von sich aus Goethe, Heine oder Brecht lesen und auch noch toll finden? […]

Wenn Literatur dort so vermittelt wird, wie es eben allzu oft der Fall ist, ändert die Auswechslung des Stoffs gar nichts. In gutem Unterricht ist der Stoff ohnehin nebensächlich – es kommt auf das Wie an und nicht auf das Was. Mit der entsprechend schlechten Didaktik kann man Kindern zeitgenössische Autoren genausogut vermiesen wie klassische. Hingegen kann man guten LehrerInnen das Telefonbuch in die Hand drücken – sie werden es schaffen, ein Leseabenteuer draus zu machen. […]

UWE SCHWARZ, Berlin

Endlich hat mal jemand mutig den endlosen Streit um die Frage, welche Lektüre im Fach Deutsch in der Schule gelesen werden sollte, auf den Punkt gebracht und mir dabei voll aus dem Herzen gesprochen. Seit vielen Jahren versuchen irregeleitete Lehrer immer wieder und immer noch – und neuerdings wieder mit heftigem amtlichem Rückenwind – die bekannten am Leben vorbeigehenden klassischen Titel in der jungen Bevölkerung populär zu machen. Die so genannten Pädagogen erreichen in der Regel natürlich nur das genaue Gegenteil von dem, was sie beabsichtigen!

Die modernen, frischen Autoren mit ihren mitten aus dem Leben gegriffenen Storys hingegen werden in den Lehrerzimmern als trivial, grobianisch, sprachlich platt diffamiert.

Der leichte Hohn, mit dem die Debatte karikiert wird, einfach köstlich. Eine durch und durch lesenswerte Glosse.

HOLGER VIETZKE

Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von LeserInnenbriefen vor. Die erscheinenden Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der taz wieder.