: Als Doktor Chajal spurlos verschwand
Nicht nur US-Militärs üben in Bagdad Gewalt gegen Iraker aus, und nicht nur Ausländer sind Zielscheibe irakischer Milizen. Immer wieder werden wohlhabende Iraker Opfer von Entführungen. Kriminelle Banden werden immer stärker
BAGDAD taz ■ Es ist ein ruhiger Freitagmittag in Adhamija, Bagdad. Die meisten Geschäfte haben geschlossen, auf den Straßen in dem sunnitischen Viertel der irakischen Hauptstadt herrscht kaum Verkehr. Nur der Ruf des Muezzin unterbricht die feiertägliche Stille.
Der Arzt Walid Chajal ist in seiner Toyota-Limousine unterwegs zu einem Besuch, als plötzlich ein schwarzer BMW und ein weißer Pick-up seinen Wagen einzwängen und ihn zum Anhalten zwingen. Vier Männer springen auf die Straße, einer schlägt dem Arzt mit einem Gewehrkolben auf den Kopf. Gemeinsam verfrachten sie den gut gekleideten älteren Herrn in den BMW mit verdunkelten Scheiben, dann rasen sie mit den drei Fahrzeugen davon. Sieben Stunden später meldet sich der Arzt bei seiner Familie. Er sei entführt worden, wisse aber nicht, wo er sei, sagt er seiner Frau in einem kurzen Telefonat. Dann bricht die Verbindung ab.
Was wie die Vorlage zu einem Gangsterfilm klingt, gehört in Bagdad heute zum Alltag. Reiche Geschäftsleute und andere wohlhabende Personen werden verschleppt, um sie gegen ein hohes Lösegeld freizupressen. Anders als bei den ausländischen Geiseln erfährt selbst die irakische Öffentlichkeit oft wenig über das Schicksal der entführten irakischen Bürger. Meistens geht es den Kidnappern bei der Verschleppung der irakischen Bürger um Geld, politische Motive seien anders als bei entführten Ausländern nicht im Spiel, sagt Polizeisprecher Ali Abdul Hussein. Für die Opfer selbst ist das in der Regel freilich unerheblich. Nach Auskunft des Sprechers stammen die Geiselnehmer größtenteils aus dem Kreis der Kriminellen, die im Herbst 2002 durch eine Amnestie von Saddam Hussein freikamen. Mehr als 10.000 Häftlinge wurden damals auf freien Fuß gesetzt.
„Im Gefängnis hatten sie sich zu regelrechten Banden zusammengeschlossen“, sagt der Polizeioffizier. Zwar sei es seiner Behörde in den vergangenen Monaten gelungen, einige dieser Banden zu zerschlagen und damit auch die Kriminalität und das Geschäft mit den Entführungen einzudämmen. Aber viele seien derart gut bewaffnet, dass ihnen die Polizei nur schwer beikomme. „Wenn wir ein Waffenlager ausheben, können wir sicher sein, dass sie sich an anderer Stelle neu eindecken.“ Der Polizei fehle es zur Bekämpfung nicht an Personal, sehr wohl aber an Ausrüstung und auch an Expertise im Umgang mit der Bandenkriminalität.
Das genaue Ausmaß des Kidnappings scheint sogar bei der Polizei unbekannt zu sein. In den ersten drei Aprilwochen registrierte die Polizeizentrale von Bagdad vier Entführungsfälle. Drei der Opfer waren minderjährige Jungen, eines ein alter Mann. Gemeinsam war diesen Fällen, dass die Verschleppten durch den Einsatz der Polizei freikamen. Die Entführung von Walid Chajal sowie die des Sohnes eines Kaufmanns aus Adhamija zwei Tage zuvor findet in den Polizeiakten indes keine Erwähnung. Auch auf den Mord an einem kurdischen Händler, dessen Familie das geforderte Lösegeld nicht aufbringen konnte, findet sich kein Hinweis.
Wäre Walid Chajal weniger bekannt, wäre vielleicht auch diese Entführung im Lärmen der kriegerischen Gewalt unbemerkt geblieben. Doch machten kurz nach der Geiselnahme die ersten Gerüchte in Adhamija die Runde, die auch die Polizei auf die Spur des Falles brachte. Chajal ist Nierenspezialist, einer der besten seines Faches im ganzen Zweistromland. Vom Schatt al-Arab bis nach Kurdistan kommen die Patienten in seine Klinik im Norden Bagdads.
Wenige Stunden nach der Entführung nahm die Polizeiwache von Adhamija mit der Familie des Arztes Kontakt auf. Doch die lehnte eine polizeiliche Intervention ab. Wie viele Angehörige hielt auch die Familie Chajal die vage Hoffnung, damit das Leben der Geisel zu retten, davon ab, die Polizei an den Verhandlungen mit den Kidnappern zu beteiligen. Hinzu kommt Scham, gilt es für einen Mann doch als Schmach, wehrlos in die Hände von Gewalttätern zu geraten.
Die Täter hätten der Familie mit weiteren Geiselnahmen gedroht, sollte sie sich an die Polizei wenden, sagt ein enger Vertrauter der Familie. Vier Tage musste sie ausharren, bis sie ein weiteres Lebenszeichen erhielt. Eine halbe Million Dollar Lösegeld forderten die Entführer.
Wie gut die Banden organisiert sind, zeigte sich nach der Freilassung von Dr. Chajal. Eine Woche lang hatten ihn die Geiselnehmer auf einem Gehöft im Westen der Hauptstadt gefangen gehalten. Mit wechselnden Fahrzeugen aus ihrem Geländefahrzeuge, Limousinen und Motorräder umfassenden Fuhrpark fuhren sie den Arzt mit verbundenen Augen in einen Vorort Bagdads. Dort stieg er in ein Taxi und kehrte zu seiner Familie zurück. Der Preis für sein Leben: 100.000 Dollar plus die teure Limousine. Von den Kidnappern fehlt jede Spur. Aus Angst vor der Rache der Geiselnehmer will sich die Familie nicht an die Polizei wenden. INGA ROGG