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Archiv-Artikel

Wer will neue Juden?

In der Alten Synagoge trifft eine neue jüdische Gemeinde auf die Erinnerungskultur.Ein Gang durch das schwäbische Hechingen

von PHILIPP GESSLER (Text) und MARTIN STORZ (Fotos)

„Schon 1938 war Schmalzbach ein halbes Jahr in Dachau.“ – „Ka sei, dass der Schmalz amol fort gsei isch.“ – „Haben deine Eltern darüber gesprochen?“ – „Die hon gsait, des sei it reacht.“ – „Und du?“ – „War der Schmalz wichtig?“

(Adolf Vees, „Hechinger Heimweh“)

Ein Jude betritt die Alte Synagoge in Hechingen. Ein echter Jude, Robert Legnani. Mit einer schwarzen Kopfbedeckung, der Kippa. Aber er kommt nicht zum Beten. Wie auch? Die Alte Synagoge heißt nur noch Synagoge, ist es aber schon lange nicht mehr. Heute ist hier ein Kulturzentrum.

Und der jüdische Gitarrist spielt im Rahmen der „Hechinger Tage Jüdischer Kultur“ an diesem milden Abend im Mai „judeospanische Musik“.

In der vorletzten Reihe sitzt Adolf Vees und lauscht andächtig den fremden Klängen. Er war maßgeblich am Wiederaufbau der Synagoge beteiligt. Er ist stolz auf seine Kontakte mit Juden. Auf dem Nachbarstuhl liegt als Geschenk für den Musiker ein Exemplar von Vees’ Buch „Das Hechinger Heimweh“. Ein Buch über die Juden, die einmal in der idyllischen Hohenzollernstadt zu Hause gewesen sind und für die das Kulturzentrum das Haus Gottes war. Aber das ist Geschichte.

Leon, genannt Leo, Schmalzbach war der letzte Rabbinatsverweser und Lehrer der jüdischen Gemeinde Hechingen. 1941 wurde er ins Lager Jungfernhof bei Riga verschleppt. Dort verhungerte er. Mit ihm starb die traditionsreiche Gemeinde. Die Juden war man los.

So dachte man. Doch jetzt lebt jüdische Kultur in der Kleinstadt nahe Tübingen wieder auf. Etwa siebzig Juden kamen in den letzten Jahren nach Hechingen. Erstmals seit dem Krieg wird die Alte Synagoge in der Goldschmiedstraße wieder zur Verherrlichung Gottes genutzt. Sechsundfünzig Jahre nachdem das letzte Gebet verstummte, am 18. März dieses Jahres, lasen Gläubige zum Purimfest wieder die Schrift im früheren Sakralbau. Die Synagoge lebt.

Das grenzt an ein Wunder. Wurde das 1767 erbaute Gebäude doch wie hunderte andere Synagogen im Nazireich zerstört. Nach dem Krieg dienten die Überreste nur mehr als Lagerhaus. Doch dann renovierte man die Alte Synagoge, und im November 1986 wurde sie als Kulturhaus – als eine Stätte der Erinnerung und Begegnung mit dem Judentum – wiedereröffnet. Mit dem kuturellen und dem historischen Judentum natürlich, ein anderes gab es ja nicht mehr.

Doch nun sind auf einmal neue Juden da. Im Zuge der Zuwanderung sind so genannte Kontingentflüchtlinge aus den Ländern der GUS nach Hechingen gekommen. Mit ihren Familien zogen sie in das beschauliche Städtchen am Abbruch der Schwäbischen Alb. Und sie sorgten für eine neue Attraktion neben der Stammburg der Hohenzollern. Einmal im Monat treffen sich in der Alten Synagoge jetzt „die Russenjuden“, wie sie hier heißen, zum Gebet. „Es ist die erste ehemalige Synagoge in Deutschland, die nach Jahren wieder ihre ursprüngliche Bestimmung erhält“, schrieb die Jüdische Allgemeine erfreut.

Doch wie die meisten Hechinger kann Fanny Popp, geborene Fauser, diese Begeisterung nicht ganz teilen. Mit ihrer Schwägerin Anna, genannt Anne, Maria Fauser steht sie an diesem Vormittag etwas ratlos in der Alten Synagoge. Wie der Stadt ist ihr das Judentum verloren gegangen.

Nach jüdischen Religionsgesetzen ist Fanny Popp die letzte deutsche Jüdin Hechingens. Ihre Mutter Flora war Jüdin, ihr Vater Jakob ein evangelischer Christ. Als Fünfjährige erlebte Fanny den letzten Gottesdienst in der Synagoge. In der folgenden Nacht, am 9. November 1938, wurde der Bau zerstört. „War noch schöner“, sagt Fanny Popp einsilbig zum Gotteshaus. Sie wurde 1940 noch von Schmalzbach eingeschult. Ihre Brüder Lothar und Arthur hatten bei „Schmalz“ noch ihre „Bar-Mizwa“ – vergleichbar der evangelischen Konfirmation, wie Fanny Popp in offensichtlich alter Gewohnheit sofort erläutert. Lothar zog, da der städtische Leichenwagen tote Juden nicht mehr transportieren durfte, am 26. November 1941 den Handwagen des Vaters, eines Glasermeisters, hinter Schmalzbach zum jüdischen Friedhof am Galgenberg. Darauf lag der Sarg der Marie Levi, die lieber ihren Kopf in den Gasofen gelegt hatte, als deportiert zu werden. Aufgrund des Tipps eines befreundeten Gendarmen flohen die Brüder Arthur und Lothar, damals 21 und 16 Jahre alt, im Februar 1945 auf Rädern in die Schweiz: Am nächsten Morgen wären sie deportiert worden.

Lothar, der jetzt in Haigerloch lebt, will über die Judenverfolgung nicht mehr reden. Man solle das doch „etwas zurückschrauben“, sagt er nur. Sein Bruder Arthur übernahm nach dem Krieg die Glaserei des Vaters, der in der Stadt „Jerusalem-Glaser“ genannt wurde: „Sie kennen die Zeit“, sagt Anne Fauser, „man hat einander gern eins ausgewischt.“ Arthur Fauser, der letzte Jude der Stadt, übernahm nach 1945 die entweihte Synagoge und richtete ein Holzlager ein.

Als in den Achtzigern auf Initiative eines philosemitisch angehauchten Vereins daraus ein Kulturhaus gemacht wurde, war Glasermeister Fauser zunächst dagegen. Doch dann fand er sich mit dem Projekt ab. Für die Haigerlocher Synagoge, die derzeit ebenfalls zu einem Veranstaltungsort umgebaut wird, hat Arthur Fauser sogar die Fenster geliefert. Im Februar vergangenen Jahres – alles war schon fertig –, da ging er noch mal kurz ins frühere Gotteshaus. Einen letzten Blick auf seine Arbeit werfen. „Nur noch drei Griffe“, oben auf dem Gerüst, erzählt Fanny Popp. Dabei stürzte er ab. „’s Gnick abbroche“, sagt seine Schwester, „er war sofort tot.“

Es waren die Umstände der Beerdigung ihres Bruder auf dem etwas verwunschenen alten jüdischen Friedhof am Galgenberg, die Fanny Popp nicht sehr positiv über die russischsprachigen Juden reden lassen – um es vorsichtig auszudrücken: Hunderte Trauergäste seien zugegen gewesen, aber es fehlte der „Minian“ – mindestens zehn jüdische Männer, die für Beerdigung eines gläubigen Juden nötig sind.

Zehn der „Russenjuden“ wurden schleunigst herbeigeschafft. Aber die waren schlampig angezogen. Dann wurde auch noch das falsche Grab geöffnet. Als der Fehler nach ein paar Stunden korrigiert war, waren der Rabbiner und die zehn Juden längst weg. „Wie ein Verbrecher“ sei ihr Bruder verscharrt worden, empört sich Fanny Popp. „Das sitzt tief.“

An der Ermelestraße, über die Lothar Fauser vor 62 Jahren den Handwagen mit dem Sarg von Marie Levi zum Friedhof zog, liegt das Übergangswohnheim, in dem viele der russischsprachigen Juden wohnen. Vor der Holzrutsche, die in einen Sandkasten voller Unkraut mündet, sitzen auf einer Bank die Bewohner in der Sonne. Einige von ihnen essen nach russischem Brauch zum Bier aus Russland getrockneten Fisch und rauchen. Ykiv, ein 55-jähriger Elektro-Mechaniker aus der Ukraine, und sein 27-jähriger Sohn Alexander sagen, dass sie Juden seien. Ykiv berichtet, dass es in der Sowjetunion nicht möglich gewesen sei, den jüdischen Glauben zu leben. Die Frage, ob sie beschnitten seien, amüsiert sie. Wörter fehlen ihnen. „In Europa nicht Schnipp“, sagen sie. „Achtung!“, warnt ein Zettel am Wohnheim, „Eingang verboten für alles fremd.“

Oleksander Shtofmaker zeigt sein winziges Zimmer, wo er mit seiner Frau lebt: ein Stockbett, ein Schrank, gerade genug Platz, um sich umzudrehen. Der 50-jährige Maschinenbauingenieur ist seit Juli vergangenen Jahres in Hechingen – in der Ukraine zurückgelassen hat er seine Enkeltochter, seine Kinder und seinen Vater. Shtofmaker war vor der Ausreise Hausmeister in der jüdischen Gemeinde von Schitomir. Beim Purimfest betete er in der Synagoge. Ein echter Jude. Stolz zeigt er einen jüdischen Kalender aus der Ukraine und einen israelischen Sabbatwein, den er aus dem Schrank hervorholt. Auf der Tür zu seinem Zimmer klebt ein „Schalom“-Aufkleber in Kussform. Israel liebt Juden.

Weil in der Synagoge mal wieder eine Schulklasse zu Besuch ist, bittet Lothar Vees, ein Cousin Adolfs, in die Caritas-Geschäftsstelle, die er leitet. Der Vorsitzende des Kulturvereins „Alte Synagoge“ meint knapp: Wenn es in Hechingen wieder eine rechtsfähige jüdische Gemeinde geben sollte, wäre es für ihn vorstellbar, die Synagoge wieder zurückzugeben. Vor zwanzig Jahren machte sich hier kaum Freunde, wer sich für die Renovierung der Synagoge und ihre Nutzung als Kulturhaus engagierte. Das prägt. Vees hat Familie Shamilov aus Naltschik in Russland mitgebracht. Dass man selbst Kontakte mit Leuten von der Ermelestraße sucht, findet er unpassend. Sie scheinen zu stören, die lebenden armen Juden.

Zu Hause waren der 37-jährige Rudolf Shamilov, seine Frau, Anne und seine beiden Söhne Eduard und Jakob in der jüdischen Gemeinde aktiv. Doch dann habe sich der Islam radikalisiert, Juden gerieten unter Druck. Um ihren Glauben leben zu können, hat die Familie viel Interesse an einer jüdischen Gemeinde in Hechingen: „Wir fühlen, dass wir hier selbst etwas aufbauen sollen – und wollen es auch.“

Auf Leute wie die Shamilovs hofft Nethanael Wurmser. Der neue württembergische Landesrabbiner hat das Purimfest in der Alten Synagoge gefeiert. In ganz Baden-Württemberg, sagt er, gebe es gerade mal dreitausend Juden, und die seien „zerstreut“. Der Rabbiner will Juden aber an wenigen Orten versammelt wissen – außerhalb davon sieht er sie nicht so gern. Dass man nun in Hechingen die Alte Synagoge nutzen könne, sei eine „sehr pragmatische Lösung“. „Auf Dörfern“ verflüchtige sich leicht der selten tief begründete Glauben der Neuankömmlinge: „Es kann sich auch wieder zerlaufen.“ Wer will die neuen Juden?

Fanny Popp sitzt mit ihrer Schwägerin auf der Eckbank ihrer Küche. Auf dem Tisch liegt eine Kostbarkeit, ein Kinderfoto von Edith und Heinz Hofheimer. Die neunjährige Edith übergab das Bild ihrer Freundin Fanny kurz vor ihrer Deportation 1941. „Zur errinerung von Ediet Hoheimer“, hat sie auf die Rückseite gekritzelt. Mit Puppe im Arm und Schulranzen auf dem Rücken sei sie zum Bahnhof gebracht worden, sagt Fanny Popp. Der Zug fuhr gen Osten. Edith wurde ermordet.

„De Juda ombrenga, des war ourecht.“ – „Aber misshandeln, verjagen, verschleppen, war das recht?“ – „Au it. Aber es hot so viele troffa, die oschuldig gsei send. Fascht älle vo meim Johrgang sen gfalle. Hots do Schuld ond Oschuld geba?“ – „Denkst du noch immer so?“ – „Ich woiß it. I möcht’s vergessa.“

PHILIPP GESSLER, 36, ist Redakteur im Berlinressort der taz. Er schreibt für das taz.mag vorwiegend über religiöse Themen