Verschwiegene Erzählung

Nahezu klassisches Handlungsballett, abstrakte Statements ohne ein Gramm Fett und deutlich zu viel Gemüse: Mit „Außer der Reihe“ gelingt es dem „Tanzwerk“ im Moks binnen 90 Programmminuten ein komplettes Festival zu präsentieren

Im Grunde war sie nymphoman. Man traf sie samstags in einer der Jazzkneipen. Sie war immer schon da, und dann trank sie und tanzte, bis der Laden dichtmachte, Whisky und Jive, bis ganz zum Schluss. Danach ging man mit ihr nach Hause, in ihre unaufgeräumte kleine Wohnung. Der Plattenspieler stand neben dem abgegriffenen Klavier, CDs mochte sie nicht. Sie stellte Musik an und tanzte weiter und soff weiter, Whisky und Jive. Irgendwann fiel sie um, jeden Samstag, man musste sie aufs Sofa legen. Und während sie schlief, winkelte sich das Bein wieder an. Langsamer als zuvor, whiskybetäubt, aber immer noch derselbe Tanz.

Das könnte sie sein, die Geschichte, die Tänzerin Anne-Katrin Ortmann in Birgit Freitags Choreografie erzählt. Im Rahmen des vom Tanzwerk initiierten Mini-Festivals „Außer der Reihe“ erlebte das Solo „Urrrgh (Else)“ am Wochenende im Moks seine Uraufführung. Der erste Teil der noch unvollendeten „Tapeten-Trilogie“, ist fast klassisches Erzählballett, sanft ironische Romantik-Zitate inklusive.

Die Handlung freilich muss der Zuschauer nachreichen. Was auch heißt: Er kann gar nicht anders. Der bestickte Leinrock schon, weit mehr noch die gekonnt nachlässigen, traumwandlerischen Bewegungen erzeugen, innig verbunden mit dem stetig abstrakter werdenden Jazz vom Band, einen unentrinnbaren Spannungsbogen. Die Atmosphäre vibriert zwischen nostalgisch-unbestimmter Trauer und schräger Lust. Und es bleibt immer dieselbe Geschichte.

„Außer der Reihe“ dauert insgesamt rund 90 Minuten plus Pause, krankheitsbedingt gab es einen unvorhergesehenen Wechsel im Ablauf, aber im Grunde war es dreimal der gleiche Abend: Etwas wenig für ein Festival, würde man sagen. Aber die vier Programmpunkte blättern ein Spektrum auf, das an Breite und Qualität so manche Ballettwochen mühelos übertrifft.

Das liegt nicht zuletzt an Birgit Freitags eigener Vielseitigkeit. Dem ausgesprochen kulinarische „Urrrgh“ stehen weitaus frugalere „Hintersichten“ gegenüber. Mit viel Spaß an der Provokation hat sich Freitag den Mikrokosmos der Bremer Straßenbahnen auf den Leib, genauer: auf den ausdrucksstarken Rücken geschrieben. Gleichwohl leidet das Konzept des Solos an einer überlangen Videosequenz, närrischen Paprikaschoten und einer Überfülle an Ideen.

Das tritt besonders deutlich zu Tage, weil Hanna Hegenscheidts „Prolog“ direkt danach kein Gramm Fett aufweist. Unnahbar kühl zeigt die Wahl-New Yorkerin einen extremen Bruch zwischen Musik und Tanz: Wie Störgeräusche, kommentiert durch komplette Regungslosigkeit, werden Sekunden-Bruchstücke einer von der Callas gesungenen Verdi-Arie injiziert. Die präzisen Bewegungen springen von rundem Flügelschlag in eckige Erstarrung um: Lapidar und wuchtig, dieses Statement. Wie ein kalter Griff ins Herz.

Benno Schirrmeister