: In Bahngewittern
Bahnchef Hartmut Mehdorn lässt porträtieren – sich selbst – im bahneigenen Magazin
Vom Volk gehasst, vom Fahrgastverband „Pro Bahn“ verleumdet, von der Presse mit einer üblen Kampagne überzogen: Bisher hat Bahnchef Mehdorn eingesteckt wie weiland Witalo Klitschko. Doch nun holt er zum publizistischen Gegenschlag aus: Im soeben erschienenen jährlichen Themenheft der Deutschen Bahn lässt er sich unter der Überschrift „Sturm und Drang“ porträtieren. Vier Seiten, die Mehdorn zeigen, wie er wirklich ist.
Gleich am Anfang erfahren wir etwas über den Menschen Mehdorn (übrigens die einzige Alliteration, die Autor Hans Borchert nicht strapaziert). Sonntags nämlich kommt Mehdorn manchmal heimlich in sein Büro, wundert sich, „wie mir das gut tut. Einfach herumzupusseln, ohne Blick zur Uhr. Auch ohne rechtes Ziel.“ Eine Arbeitsweise, die er in kürzerster Zeit auf das gesamte Unternehmen übertragen konnte. Ansonsten hat Mehdorn zur Arbeit eine volkswirtschaftlich vorbildliche, wenn auch etwas merkwürdige Einstellung: „Zum Glück folgt jedem Sonntag sogleich der Montag. Und damit los, in die Hände gespuckt und an die Arbeit. Am liebsten schon morgens um sieben. Typisch für Hartmut Mehdorn.“
In der Folge zeichnet Borchert das eindringliche Bild eines Helden, wie wir ihn aus Western- und Landserheften kennen. Es ist ein einsamer Kampf, den Mehdorn führt: „Nur er, der Schreibtisch, die Papiere, der Laptop.“ Doch einer wie Mehdorn scheut auch die Konfrontation nicht. Zum Beispiel wenn er die Frauen und Männer der Bahn trifft, deren Stellen er demnächst streicht: „Ernst ihre Mienen und doch – auf beiden Seiten offenes Visier.“ Cool wie John Wayne tritt er ihnen gegenüber: „Ohne Manuskript, locker ans Pult gelehnt, skizziert der Bahnchef die Lage des Unternehmens im wirtschaftlichen Kontext der Republik.“ Wir wechseln vom Western- ins Weltkriegsfach: „Was folgt, heißt: Feuer frei. Frage und Antwort. Antwort und Frage.“ Als läge er neben Ernst Jünger im Schützengraben. Wobei man schon gern wüsste, wie es sich anhört, wenn die Bahner die Fragen zu Mehdorns Antworten stellen.
Klar, dass Mehdorn immer Klartext redet: „Ihm kullern keine Modewörter aus dem Munde, er ist kein Sprachverderber. Was zu sagen ist, das sagt er: deutlich und auf Deutsch.“ Zum Beispiel? „Ich weiß: Sanieren nervt. Sanieren geht allen auf den Keks. Wenn die Bahn in der Pampe steckt, dann müssen wir uns selber helfen, uns bei diesem atemraubenden Prozess am Schlafittchen packen.“ Keks, Pampe, Schlafittchen – Vokabeln, die Autor Borchert zusammenzucken lassen: „Mehdorn liebt klare Worte.“
Wer aber im Fragenhagel der Mitarbeiter besteht, den können auch Naturgewalten nicht ins Wanken bringen. Borchert konfrontiert seinen Helden mit der Jahrhundertflut. „Deutschland im Herbst 2002. Weit überflutet das Land. Felder und Wälder unter Wasser. Abgeschnitten ganze Städte. Voll gelaufen unzählige Keller, weggerissen und zerstört Häuser und Straßen.“ Mehdorns landserlogische Antwort: „Die Bahn wie ein Mann und wie aus einem Guss.“ Und aus welchem Material gegossen wird, steht für ihn auch außer Frage: „Damaszenerstahl ist nur deshalb so gut, weil er immer wieder geschmiedet wird.“
Was Mehdorn für ein Teufelskerl ist, erkennt Autor Borchert schon an der Physiognomie: „Wahr ist: Die Bahn hat ein Gesicht. Es trägt die Züge eines vitalen Lebens. Eisernen Willen signalisieren schmale Lippen und gewölbte, hohe Stirn, Energie bündelt das Kinn. Die Augen blitzen. Mal kampfbereit, mal voller Lebenslust.“ Gesichtszüge, als hätte sie Leni Riefenstahl persönlich geschnitzt. Und ein Mann wie von Breker in Marmor gemeißelt: „Nein, den Brocken Eisenbahn tragen keine schmalen Schultern, noch bewegt ihn zierlich eine Pianistenhand. Diesen Konzern regieren nebst dem Verstand auch Kraft und Wille.“ Als hätte sich für den tapferen Hartmut He-Man mit Mutter Beimer gepaart. Aber man stutzt. Wieso kommt auf einmal Verstand ins Spiel? Von dem war doch bisher noch nicht die Rede. Und ist es auch weiterhin nicht – Autor Borchert hat Verstand und Gedächtnis verwechselt: „Selbst kleinste Details memoriert der Mann aus dem Stegreif.“ Die Namen sämtlicher ICE womöglich? Die Speisekarte der IC-Bistros? Alle Devotionalien aus dem DB-Shop inklusive Preis? Noch besser: die „Zwischengrößen der neuen Uniformen für ‚unsere hübschen jungen Damen‘ “.
Auch wenn es nicht ausgesprochen wird, hier wird zur Gewissheit, was wir schon ahnten: Mehdorn hat Eier aus Stahl und einen Schwanz wie eine Schiene. Und Autor Borchert, der schon für Die Woche und den Stern schrieb, hat mit diesem Artikel wohl ein neues literarisches Genre begründet: den kapitalistischen Realismus.
PHILIP MEINHOLD