Echte Rock-Disziplin

Eben wieder die gleiche, gehasst-geliebte Chose wie jedes Jahr: Roskilde 2003

Wenn Dänen Aftershave trinken, Schwedinnen in Schlammkuhlen schnorcheln und dazu Iron Maiden spielt – das kann nur Roskilde sein. Frohgemut latschte man am Wochenende wieder die Zeltbühnen von Dänemarks größtem Festival ab, in der Hoffnung, genau zum richtigen Zeitpunkt vor genau der richtigen Band zu stehen.

Was gar nicht so einfach ist. In manchen Fällen natürlich schon, um besagte Iron Maiden kam man einfach nicht herum, Englands geschmacklosestes 80er-Relikt spielte da, wo es verdammt noch mal hingehört: im Orange Tent. Freitagabend kann man auf dem Festivalgelände also keinen Schritt tun, ohne die Männer schreien zu hören und die Gitarren posen zu sehen. Das ist völlig okay, und dass Frontmann Bruce Dickinson am Tag als Pilot arbeitet und nur nachts sein T-Shirt-Kutte-Kostüm aus dem Spind holt, wärmt einem das Herz: echte Rock-Disziplin! Außerdem ist allein der betongraue Tourenbus jede mögliche durch Camping-Rückenschmerzen ausgelöste schlechte Laune wert. Denn darauf ist das scheußlichste Motiv geairbrusht, das je außerhalb der Hölle gesichtet wurde: ein molliges Baby in rotem Bikini und Commedia-Maske reitet auf einem Kampfhund.

Nebenan Cockney-rappen die genialen Streets. In kurzen Hosen trabt Mike Skinner über die Bühne und bringt original pirate material aus British Suburbia. Dass sogar The Streets das alte „Paahty!“-Spiel mitmachen, ist typisch Roskilde – nirgends ist die Crowd so dankbar für jeden Winkehinweis von oben. Ganz schön viel Paahty! swingt auch bei De La Soul, am sonnigen Samstagnachmittag. Immer noch sophisticated und ohne Gangsta-Attitude scratchen die drei New Yorker, als ob sie das nicht schon seit fünfzehn Jahren tun müssen, und die Crowd schreit „Ah, Ah“ und „Hey, how you’re doing“ an den richtigen Stellen. De La Soul meint es schließlich from the soul.

Danach stolpert man wieder über den sandigen Platz, riecht pissende Männer und Bier, und hört unter dem Geschubber der allgegenwärtigen Gummilatschen, die jetzt Flipflops, in Dänemark aber Klipklaps heißen, wie die Melvins ein Gewitter starten, das man nur staunend beklatschen kann: Nach drei Minuten ist man in einer tiefen, dunklen Black-Sabbath-Grunge-Trance und schaut hypnotisiert zu, wie Buzz Osbourne den komischen Afro schwingt und die Gitarre haut. Aufwachen kann man nur, weil die Melvins trotz unterschiedlichen Sounds ein wenig das gleiche Problem wie De La Soul haben: Auf Platte kommen sie noch um Klassen besser, mehr auf den Punkt. Trotzdem ist man danach bereit, sich bei Daniel Johnston die Ohren auszuruhen. Und der bringt einen fast zum Weinen. „I dreamed I’m dying in my sleep just to awake lying in a coffin“, singt er mit zerbrechlicher Stimme allein zur Klampfe, und dann möchte er den Himmel verklagen, weil der ihn in Versuchung bringe, Selbstmord zu begehen. Johnston ist manisch-depressiv und therapiert sich mit jedem Auftritt einen Schritt weg vom Traurigen in seiner Seele. Und weil er sie damit so offenbart, kann man nichts tun als mithoffen und ihn mögen.

Johnston fällt einem morgens wieder ein, als ein Angeber vom Tuborg-Zeltplatz (dem Idiotencamp aus hunderten schön aufgereihten Tuborg-Ein-Mann-Zelten) besoffen auf einen hohen Schornstein kraxelt und sich nicht wieder runtertraut. Selbsttötungsabsicht mag ihm die Feuerwehr, die ihn wie ein Kätzchen mit einem Kran rettet, nicht unterstellen, obschon, man kann sich auch ins Grab trinken.

Was ging noch? Blur waren etwas lahm, aber nicht ganz so folkig-dämlich wie die Cardigans, The Kills, ein White-Stripes-Klon, ganz okay, allerdings ist es doch medioker merkwürdig, dass coole Musik und Mode heute bedeuten könnte, junge Frauen benehmen sich auf der Bühne wie Joey Ramone auf Heroin und ziehen sich auch so an, samt schwarzen Jeans und Cowboyboots. Aber sei’s drum. Noch wirklich Aufsehen erregend waren Radio 4 aus New York, die voll Elan und Ideen und mit sauguten Musikern (plus Percussionisten) eine Art Gang-of-Four-Clash-Show lieferten. Unter der gnädigen dänischen Sonne also wieder die gleiche, gehasst-geliebte Chose wie jedes Jahr: Roskilde eben. Alles da, was das Herz hören will. Man muss es nur finden. JENNI ZYLKA