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Archiv-Artikel

Die Neokons der Popkritik

Auf in die Vergangenheit: Die bürgerliche Popkritik ruft zur neokonservativen Sinnstiftung und reaktiviert dafür einen zwanzig Jahre alten Popbegriff. Wo einst bedingungslos die Oberfläche gefeiert wurde, soll auch heute wieder Glamour sein. Die feinen Unterschiede bleiben dabei auf der Strecke

Pop war noch nie ausschließlich ein Phänomen des Marktes

VON STEFFEN IRLINGER

Es stinkt im Königreich Pop. Glaubt man einigen Autoren, so bewegt sich nichts mehr in seinem gewohnten Tempo, die Musikindustrie geht vor die Hunde, und alles Gute kommt vom Gestern. Aber vielleicht ist das nur eine Sicht der Dinge. Wer genauer hinschaut, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier mehr als Musik verhandelt wird. Hier geht es auch um Diskurshoheit, sozioökonomische Kämpfe und das Recht auf vorzeitige, ungestörte Altersruhe.

In Teilen der deutschsprachigen Popkritik ist es wieder schick geworden, sich auf die Vergangenheit zu berufen. Vor allem im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung wird mit einem veralteten und grotesk fehlinterpretierten Popbegriff herumgespackt, der in den frühen Achtzigern in Zeitschriften wie Sounds oder Spex entwickelt wurde und mittlerweile – über verschiedene mediale Schwundstufen – eigentlich im Stadium seiner vollendeten Kompostierung angekommen sein sollte. Als rhetorische Kniffe wie die bedingungslose Feier der Oberfläche, die Überbetonung des Glamourbegriffs und der unbedingte Wille zur Affirmation in den frühen Achtzigern entwickelt wurden, standen sie in einem bestimmten Kontext: Sie dienten der Abgrenzung von den ästhetischen Idealen der Hippies. Doch genau dieser Popbegriff wird heute von einer Bande reaktionärer Popschreiber unreflektiert in die Jetztzeit projiziert.

Zwei Grüppchen sind dabei erkennbar – die Evil-Twins der neuen neokonservativen Popkritik. Da wäre einerseits die Tristesse-Royal-Connection der Herren Joachim Bessing und Eckart Nickel, die dem wehrlosen Opfer mit ihrer Einstecktuchlyrik und einem um zwanzig Jahre bereinigten popkulturellen Weltbild auf den Leib rücken. Andererseits die übrig gebliebenen Affirmationsgläubigen aus der Jetzt-Schule. Die wiederum begeistern mit einer diffusen Mischung aus Beamtenmentalität, Hysterie, und seltsam verknispelter Poesiealbenprosa.

Als der „Literat“ Nickel Ende April in der Süddeutschen Zeitung mit seinem Artikel „Zeit der Lieder“ einen erneuten Abgesang auf das Phänomen Techno verfasste, war das also nur der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung. Ausgehend von der Wiederkehr des gediegenen Songwriting englischer Schule, wird hier der in der europäischen Geistesgeschichte verwurzelte und kultivierte „Song“ gegen die tribalistische, triebgesteuerte „Maschinenmusik“ afrikanischer Provenienz und das empfindsame Subjekt gegen die dumpfe Masse in Stellung gebracht. Da müssen dann der arme Oscar Wilde und das „freche Saxophonsolo“ dafür herhalten, den Tod von Techno und die Wiedergeburt des europäischen Liedgutes und damit letztendlich auch die lang ersehnte Rückkehr der neokonservativen Sinnstiftung abzufeiern. Der Text kulminiert in einer Passage, in der Nickel feststellt, dass eine ganze Generation von aufrechten Denkern Techno mit „Musik verwechselt“ habe, eine Zwangsvorstellung, die ihn schließlich ausrufen lässt: „Ja, man sah die größten Geister einer Generation willentlich zerstört vom Irrsinn.“ Selbst der als Referenzpunkt genannte Popjournalist Olaf Dante Marx, der zu Lebzeiten gegen überdrehte Argumente grundsätzlich nichts einzuwenden hatte, hätte sich hier den Kaschmirschal um den Kopf gewickelt.

Traurig, aber wahr: Das publizierte Nachdenken über Pop und Popmusik ist nach über zwanzig Jahren an einem Punkt angelangt, wo sich Autoren aufgrund ihrer Hartnäckigkeit und ihres biologischen Alters zu einem Thema äußern dürfen, von dem sie so viel Sachkenntnis besitzen wie ein Anosmatiker von der Parfümherstellung. In anderen Ressorts hätten die Verantwortlichen für einen solchen Artikel ihren Hut nehmen müssen. Ein komplettes kulturelles Spektrum ist wieder zum Herumdilettieren freigegeben worden. Warum eigentlich?

Kurz gesagt: Die New Economy und die Popliteratur sind schuld. Mit dem ökonomischen Desaster der New Economy und der anschließenden wirtschaftlichen Rezession inklusive Anzeigenflaute wurde die so genannte Popliteratur und mit ihr auch der gesamte progressiv angelegte jüngere Journalismus und insbesondere der Popjournalismus in den bürgerlichen Medien großflächig diskreditiert, in andere Kanäle verdrängt und remarginalisiert. Unvergessen der Text des Zeit-Feuilleton-Chefs Jens Jessen anlässlich der Einstellung der Berliner Seiten der FAZ, in dem er mit mühsam unterdrücktem Triumphgeheul die Rückkehr der kulturellen Standardwerte feierte. Auf der Seite der Popkritik braucht es seit dieser Zeit wieder besonders gute Argumente, um die Bedeutung eines popkulturell verankerten Artefakts zu legitimieren. In Ermangelung einer gemeinsamen Verständnismatrix wird dann eben gern mit der Kettensäge argumentiert und werden kleinere Unebenheiten großzügig weggehobelt. Das ist exakt der Punkt, an dem die große Stunde der falschen Freunde des 82er-Popmodells geschlagen hat.

Unter deren Regie soll man sich wieder daran gewöhnen, dass popkulturelle Relevanz fast ausschließlich in ökonomischen Parametern abgerechnet wird und ästhetische Tendenzen nur noch ab der Messgröße Quantensprung registriert werden. Ständig werden irgendwelche überkommenen Dichotomien aufgewärmt und wird wahlweise Techno beerdigt oder die Rückkehr von Rock gefeiert. Immer ist irgendwer die Zukunft von irgendetwas, und irgendein mittelmäßiges Soloalbum von irgendjemand läutet ein vollkommen neues Popzeitalter ein. Woher kommt eigentlich diese merkwürdige Sehnsucht nach den großen Entwürfen? Anscheinend hat eine ganze Generation von Popschreibern nur gelernt, in Verkaufszahlen und grob gehauenen Dichotomien zu denken und mittels eines heiß gelaufenen Sensationsdetektors zwanghaft eine Spielart von Pop gegen die andere auszustechen. Eine Qualität, die sie bei der derzeitigen feuilletonistischen Großwetterlage zu nachgefragten Contentlieferanten macht.

Ganz Schlaue werden jetzt argumentieren, dass diese Arbeitsweise nur pragmatischer Ausdruck der Anpassung an die Gesetzmäßigkeiten des Medienbetriebs ist. Und die Sache mit den Verkaufszahlen wird in einer durchökonomisierten Gesellschaft sowieso als systemimmanent vorausgesetzt. Klar ist aber auch, dass ein kulturelles Feld, das seit seiner Erfindung immer wieder durch seine Innovationskraft und Zukunftsfixierung aufgefallen ist, an ebendiesen Kategorien gemessen wird. Dennoch sollte man einmal eines festhalten: Argumentative Genauigkeit hat noch keinem Autor geschadet, und historisch gesehen war das potenziell offene kulturelle Konstrukt Pop nie ausschließlich ein Phänomen des Marktes und der sich ablösenden Zukunftsentwürfe. Es war immer auch und vor allem anderen ein ästhetisches Versuchslabor, ein Spannungsfeld, in dem verschiedene Ansätze miteinander konkurrierten. Eine Spielwiese für mehr oder weniger durchgeknallte Figuren, die in irgendwelchen Kellern oder Proberäumen vor sich hin werkelten und in einer verzerrten Bassline oder einem markanten Gitarrenriff einer sich gerade aufdrängenden gesellschaftlichen oder ästhetischen Frage in einem historischen Augenblick Ausdruck verliehen.

Ein komplettes kulturelles Spektrum ist zum Dilettieren freigegeben worden

Aber um das zu verstehen, muss man sich eben ab und zu an den entsprechenden Örtlichkeiten herumtreiben und dabei sein, wenn sich diese Momente einstellen. Denn auch wenn die Kategorie des Authentischen in der Kulturkritik in den letzten Jahrzehnten diskreditiert wurde und einem intellektuellen Verdrängungswettbewerb zum Opfer gefallen ist, kann es beim Schreiben über Pop nicht von Nachteil sein, schon mal aktiv am Nachtleben teilgenommen zu haben. Dabei gilt es nicht als Authentizitätsnachweis, Anfang der Neunziger auf einem schwäbischen Kleinstadt-Rave eine Pille eingeworfen zu haben.

Langsam jedoch stellen müde gewordene Dreißigjährige fest, dass ihnen das Ausgehen und das Herumhängen in Plattenläden nicht mehr ganz so leicht fällt. Der Freudenspender Popmusik taugt für das eigene Leben in erster Linie nur noch als Prozac-Ersatz und wird vor allem als Folie gebraucht, auf der der Broterwerb organisiert sein will. Da hilft es enorm, wenn man ungestraft von früher erzählen darf oder hier und da über außermusikalische Dinge reflektieren kann. Das vermeintliche Ende der Jugendkultur, die Entdeckung der Vierzigjährigen als Käuferschicht und die Erfindung des Alters als der besseren Lebenshälfte sind Ausdruck dieser tief verankerten Sinnkrise. Und die Berichterstattung über die – zu Recht in Trümmern liegende – Musikindustrie ist für den Popjournalismus genau das, was Brecht/Weill-Interpretationen für in die Jahre gekommene Sängerinnen sind: eine als Weiterentwicklung verbrämte Zwischenstation an der Einbahnstraße von der Resignation in die Bedeutungslosigkeit.

Schon klar, die Verlockung, angesichts der kriselnden Musikindustrie billige Distinktionsgewinne zu erzielen, ist für einige Probanden offensichtlich unwiderstehlich. Je bedauernswerter der Gegenstand der Beschreibung, desto smarter erscheint der Betrachter, und desto leichter lässt sich dieser herablassende und überhebliche Ton desjenigen anstimmen, der schon immer alles besser wusste. Während Fußballmanager im Krisenfall immer „nah an die Mannschaft rücken“, um „Strömungen zu erkennen“, wählen die Köpfe der neokonservativen Popkritik den umgekehrten Ansatz: Sie distanzieren sich immer mehr von ihrem Gegenstand und rücken nur dann „nahe an die Mannschaft“ wenn es darum geht, sich für einen billig errungenen Pokalsieg bei einem Viertligisten feiern zu lassen.

Niemand bestreitet, dass die Popmusik schon mal bessere Zeiten gesehen hat. Aber die viel zitierte Krise der Musikindustrie betrifft nur am Rande die Musik selbst. Sie ist in allererster Linie eine Krise der etablierten Distributionsformen und der ökonomischen Ausbeutung von Pop. Es gibt nach wie vor genreübergreifend spannende, interessante, gewagte, kaputte, mutige oder einfach nur schöne Musik. Das Problem dabei ist, dass wir es mittlerweile mit einem extrem heterogenen und ausdifferenzierten Feld zu tun haben und uns möglicherweise daran gewöhnen müssen, dass die Zeit der großen Verwerfungen erst mal vorbei ist. Die Popmusik ist nach über 40 Jahren Dauerrevolution erwachsen geworden und im Stadium ihrer ästhetischen Verfeinerung angekommen. Um diese zu diagnostizieren, bedarf es anderer Analysesysteme, eines genaueren Blickes. Es ist wenig hilfreich, wenn man dem Kranken übermüdet und mit schlecht übersetzten alten Lehrbüchern auf die Pelle rückt und direkt den Leichenwagen bestellt, nur weil der Patient schlecht riecht und sich nicht mehr schnell genug bewegt.