Die Frau Ihres Vertrauens

„Ich hatte nichts zu bewältigen. Ich brauchte auch nicht politisiert zu werden“

AUS BERLIN UNDFRANKFURT (ODER)HEIDE OESTREICH

Die Kandidatin spricht mit vollem Mund. Sie hat Bockwurst aus der Kantine der Viadrina ins Büro mitgenommen. Die Zeit bis zur Wahl ist knapp, das Gespräch mit der Zeitung findet halb auf der Autofahrt in die Uni nach Frankfurt (Oder) und halb während des Mittagsimbisses statt. „Ich muss leider mit vollem Mund sprechen“, sagt sie kauend – und ungeniert.

Gesine Schwan, die Kandidatin von SPD und Grünen für das Bundespräsidentenamt, macht keine Umstände. Private und öffentliche Person trennt sie kaum. Sie reibt im Gespräch einen Fleck aus dem Rock, holt zur Bockwurst den Roten aus dem Schrank und erteilt damit nebenbei Anschauungsunterricht in ihrem Lieblingsfach: Vertrauen. Offenbar vertraut sie darauf, dass das Gegenüber schon keinen falschen Eindruck bekommt.

Morgens hat sie noch mit ihrem Kollegen Karl Schlögel an der polnischen Grenze die EU-Erweiterung per Podiumsgespräch begrüßt. Während Schlögel öffentlich vom Moderator für sein Engagement für die deutsch-polnische Kommunikation gelobt wird, lächelt die Präsidentin den errötenden Professor mit einer Art Mutterstolz von der Seite an, findet einen Fussel an seinem Ohr und beseitigt ihn flugs, bevor sie selbst zu einer Rede anhebt. Es ist irgendwie entwaffnend, wie Gesine Schwan einfach so ist, ohne sich sichtbar Gedanken darüber zu machen, wie sie wohl ankommt. Selbstvertrauen nennt man das wohl.

Eigentlich ist es schwer, mit dem Schlagwort, das ihre Kandidatur prägt, nicht baden zu gehen. „Vertrauen“. Es klingt nach jemandem, der die Wunden, die die Agenda 2010 schlägt, mit weißer Salbe behandeln will. Mehr Vertrauen zwischen den Tarifpartnern, ein neuer Grundkonsens, am Ende gar noch die Kraft der Liebe. Damit zog Gesine Schwan durch die Talkshows. Es ist offenbar Teil ihrer Person: Gesine Schwan hält wenig Distanz, legt einem schon beim zweiten Satz die Hand auf den Arm, drückt die Frankfurter Honoratioren fest zum Abschied und muss noch schnell das Baby der Vizepräsidentin anlächeln. Die katholische Schwester Gesine nach dem evangelischen Bruder Johannes?

So einfach ist es nicht. Gesine Schwan hat das Thema Vertrauen in mehreren Konfektionsgrößen parat, erzählt etwa die Vizepräsidentin der Viadrina, Janine Nuyken. Vertrauen in sich und andere sei bei Schwan geradezu die Voraussetzung für erfolgreiches Streiten, hat sie beobachtet. Als Schwan 1999, frisch zur Präsidentin der Viadrina gekürt, die damalige Frauenbeauftragte Nuyken als Vizepräsidentin vorschlug, gab es gleich einen Aufstand unter den Professoren. Sie hatten ein Statusproblem: Die Frauenbeauftragte hatte keinen Doktorgrad und sogar erklärtermaßen nicht die Absicht, einen zu erwerben. Schwan akzeptierte das und traute ihr offenbar trotzdem einiges zu. „Sie hat den Streit durchgezogen – mit viel Kommunikation, aber ohne mit der Wimper zu zucken“, sagt Nuyken. Die Vizepräsidentin wurde vor kurzem einstimmig wiedergewählt.

Ausgerechnet die Frauenbeauftragte. Dabei war Gesine Schwan nie der Lichtblick der Feministinnen. „Ich wusste nicht, wovon ich mich hätte emanzipieren sollen“, sagt sie frei- und auch ein wenig hochmütig. Sie beschreibt ihre Mutter als vollständig emanzipierte, politische Frau. Sie hatte mehrere Parteien gegründet und „höchst ungern den Boden gewischt“. Am „Osi“, dem Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität in Berlin, wo Schwan bis zum Wechsel an die Viadrina lehrte, hatten die Feministinnen deshalb lange Mühe mit der einzigen Frau unter den Theorieprofessoren. Quoten sind ihr ein Gräuel. Sie vertraut darauf, dass Leistung sich durchsetzt.

Blindes Vertrauen, Schwester Gesine, hätten die Osi-Frauen wohl gesagt. Sie sei sich ihres Privilegs als Gattin des renommierten Theoretikers Alexander Schwan, der sie ans Osi holte, lange nicht bewusst gewesen, meint die Frauenbeauftragte des Instituts, Barbara Strobel. „Sie hatte damals rund um die Uhr eine Hauswirtschafterin und keine Vorstellung davon, was allein erziehende Mütter stemmen müssen“, sagt Strobel. Sie hat auch an Schwans Politikverständnis einiges auszusetzen: „Gerechtigkeit“ etwa müsse dem „Vertrauen“, mit dem Schwan hausiert, doch wohl vorgelagert sein: „Grundkonsens, das sagt mir nichts.“

Trotzdem hat Barbara Strobel mehr als 600 Briefe eingetütet. Briefe an die Wahlmänner und -frauen der Union und der FDP. Briefe, in denen für die Kandidatin Gesine Schwan geworben wird. Warum, Frau Strobel? Weil Gesine Schwan sich verändert hat. Weil sie der Frauenbeauftragten später manches Mal zur Seite gesprungen ist, wenn Professoren sich über das Frauenthema lustig machten. Weil Barbara Strobel ihr deshalb – trotz des fragwürdigen Vertrauensbegriffs – vertraut.

Was hat sie verändert? Der Verlust ihres Mannes, der 1989 an Krebs starb, stürzte Schwan in eine Krise, die auch ihr ungetrübtes Selbstbewusstsein erschütterte. Zudem verabschiedete sich der „Ostblock“ von ihrer Lieblingsfeindideologie. Und die Studenten streikten – wieder einmal. Ende der Achtzigerjahre brach ein großer Teil der Welt der Gesine Schwan einfach weg.

Diese Welt war immer noch gespalten. In den Siebzigerjahren hatten linke Gruppen in den universitären Mittelbau Einzug gehalten. Die Demokratietheoretiker, die Schwans ganz vorneweg, sahen im wahrsten Sinne des Wortes rot und hielten die Freie Uni für unterwandert. Erst später, als Schwan begann, sich mit Freud und politischer Psychologie zu beschäftigen, weitete sich ihr Blick für die tiefer liegenden Motive der Revolte. „Mein Fehler war,“ sagt sie heute, „dass ich die beim Wort genommen habe. Aber die meinten gar nicht, was sie erzählten. Die waren vor allem damit beschäftigt, die Vergangenheit ihrer Eltern zu bewältigen“. Ihr war das fremd: „Meine Eltern waren im antifaschistischen Widerstand. Ich hatte nichts zu bewältigen. Ich brauchte auch nicht politisiert zu werden. Ich war demokratisch und antitotalitär. Die anderen“, so ihre selbstbewusstes Urteil, „mussten das ja erst lernen.“

Noch Ende der Achtziger hatten sich die Lager am Osi keineswegs aufgelöst. Alexander Schwan war in die CDU eingetreten, Gesine Schwan hatte Willy Brandt einen blauäugigen Schmusekurs gegenüber dem Ostblock unterstellt und war dafür aus der Grundwertekommission der SPD gefeuert worden. Am Osi hatten sich die Gruppierungen mitterweile hinter Wortungetümen verschanzt, zwischen denen die StudentInnen wählen konnten: empirisch-analytische, normativ-ontologische oder kritisch-dialektische Politikwissenschaft. Die einen machten Parteianalysen, die andern Marx-Kurse. Und die normativen Ontologen, das waren die mit dem unkritischen Politikbegriff. Die Schwans. Er machte Kant, sie Tocqueville.

1988 spielten die Studenten nicht mehr mit. Sie streikten. Nicht nur gegen das Uni-Sparkonzept. Auch gegen die Art, wie die Wissenschaft organisiert war. Statt Tocqueville oder Marx, statt Ontologie oder Dialektik forderten sie nun Interdisziplinarität und Feminismus. Da standen die GrabenkämpferInnen von einst blöd da.

Sie vertraut darauf, dass das Gegenüber schon keinen falschen Eindruck bekommt

Gesine Schwan war es, die in dieser Zeit als Erste aus dem Graben klettete. Dieser Nachwuchs wollte offenbar nicht mehr Sozialismus, sondern mehr Demokratie. Das war Schwans Einsatz. Anders als viele ihrer KollegInnen schenkte sie den Streikenden einen Vertrauensvorschuss: Sie gründete eine paritätisch besetzte Leitungskommission mit – ohne Professorenmehrheit – und überredete die verblüffte Institutsleitung, die Beschlüsse des Selfmade-Gremiums en bloc zu übernehmen.

„Es war ein demokratisches Experiment“, sagt sie heute. Das Experiment hat Bewegung in die Osi-Lager gebracht. Danach konzipierten die kalte Kriegerin Schwan und der Exaktivist der „Sozialistischen Assistentenzelle“ Bodo Zeuner zusammen eine Vorlesung. „Und mittlerweile haben wir uns sogar persönlich angefreundet“, sagt Zeuner, der heute auf Attac-Kongressen redet. Er klingt immer noch ein bisschen verwundert.

Obwohl er Schwans Politikansatz eine „gewisse Ökonomievergessenheit“ bescheinigt und eine Tendenz, Herrschaft zu rechtfertigen, kann Zeuner ihrem Vertrauensbegriff einiges abgewinnen: „Da ist mehr dahinter als ‚Versöhnen statt Spalten‘, sagt er. Es habe eher mit dem berühmten „Gefangenendilemma“ aus der Spieltheorie zu tun. Eine Konfliktsituation wird durch gegenseitiges Misstrauen so verschärft, dass mögliche Entwicklungen für beide Seiten schlechter ausgehen, als wenn man sich gegenseitig eine Art Vertrauensvorschuss gewährt. So könnte man die Lernerfahrung aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit auch begreifen.

Schwan hat sich in dieser Zeit eine neue Offenheit erarbeitet. „Ich sehe jetzt mehr die Zwänge, in denen andere stecken“, sagt sie, als die Bockwurst verspeist ist. Als sie allein erziehende Mutter ihrer beiden Kinder wurde, sei ihr schlagartig klar geworden, was das bedeute. Seitdem hat sie durchaus ein offenes Ohr für feministische Anliegen. Eigentlich nehme sie sogar oft die typisch weibliche Rolle der Konfliktbewältigerin ein, fällt ihr noch auf. Zu Hause mit Vater, Mutter und großem Bruder wurde oft laut und temperamentvoll gestritten. Das federte nicht etwa die Mutter ab: „Meine Mutter war selbst ein Hurrikan.“ Es war das Kind Gesine, dem die lautstarken Auseinandersetzungen regelmäßig zu viel wurden. Typischerweise kam sie dabei aber zu unkonventionellen Lösungen: „Manchmal holte ich das Gesangbuch und fing laut an zu singen. Das hat funktioniert!“

Diesen festen Glauben an die Wirksamkeit ihrer vertrauensbildenenen Maßnahmen hat Gesine Schwan sich bewahrt. Mit dieser Zuversicht konnte sie ideell Gewinnerin einer Wahl werden, die sie praktisch wohl verlieren wird. Denn in der Praxis zählen am Ende doch Strukturen, die Gesine Schwan gern in ihrem emphatischen Demokratieverständnis aufhebt. Strukturen, die die Internet-Suchmaschine Google sehr schön spiegelt: Wenn man „Bundespräsidentin“ eingibt, fragt sie zurück: „Meinten Sie ‚Bundespräsidenten‘?“