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Archiv-Artikel

Dem Phantom auf der Spur

Alle reden vom Sommerwein. Aber niemand weiß, was das eigentlich sein soll. Versuch einer Entlarvung durch Annäherung: Im Dschungel der Definitionen, Meinungen und Gefühlsausbrüche formt sich ein wunderbar widersprüchliches Bild

VON URSULA HEINZELMANN

Was ist ein Sommerwein? Wie schmeckt ein Sommerwein? Ist er rot, weiß oder rosé? Säurebetont? Trocken? Fruchtig? „Sommer, auf der nördlichen Halbkugel die Zeit vom 21. 6. bis 23. 9., auf der südl. vom 21. 12. bis 21. 3.“ sagt der Brockhaus.

Trinken wir wirklich drei Monate, über 90 Tage lang, nur einen Typ von Wein? Erklärt uns da nicht vielleicht die Werbebranche einmal mehr zu leichtgläubigen Trotteln und spielt mit klischeehaften Assoziationen wie der Sehnsucht nach dem Arkadien des Südens? So wie sie uns anderes mit Hilfe von Jugend, Sex, Genuss, Freiheit verkaufen wollen. Sommerwein ist ein Unwort der Weinwelt, in bester Gesellschaft von „Spargelwein“ und „Jubiläumscuvée“, ein großer Grabbeltisch mit allem möglichen, für das einem gerade kein anderes Verkaufsargument einfällt.

Versucht man, den Begriff Sommerwein anhand des tatsächlich Konsumierten zu definieren, ist das Ergebnis ebenfalls bunt gemischt. „Der Sommerwein“ ist ein Phantom – natürlich ist er eigentlich kein Rotwein und bestimmt kein Vintage Port, vielleicht ein trockener Riesling von Mosel, Saar oder Ruwer – oder ein „Leichtwein“ aus dem Süden. Doch auch wenn sie nicht ganz so absurd wie das Versprechen der „ewigen Jugend“ sind, sind „perfekte Sommertage“ ebenso selten wie „weiße Weihnachten“.

Zum Beispiel Sommer 1993 in Bremen: Petrus scheint ein bisschen durcheinander gekommen zu sein; der Mai ist nahezu unerträglich heiß, doch ab offiziellem Sommeranfang macht sich frösteliges, graues Regenwetter breit. Allein der Gedanke an erfrischend knackige Rieslinge sorgt für Gänsehaut, die Rotweinbestände unseres Kellers werden bis aufs Äußerste strapaziert.

Oder die italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg: „Ich hasse den Sommer. Ich hasse den Monat August bis Ferragosto, bis zum 15. Ist Ferragosto vorbei, scheint es mir, als erwachte ich langsam aus einem Albtraum. Mir scheint, als besserte sich alles langsam für mich. Die Herbstgewitter beginnen. Ich liebe den Herbst, und gewöhnlich schreibe ich im Herbst etwas. Im Sommer gelingt es mir überaus selten zu schreiben.“

Ein Werbespruch für einen Blanc-de-Blancs-Champagner verspricht hingegen: „Prickelnder Sommergenuss …“

Die Popsängerin Nancy Sinatra hat ganz andere Vorstellungen: „Strawberries, cherries and an angel’s kiss in spring: my summer wine is really made from all these things …“ („Erdbeeren, Kirschen und eines Engels Kuss im Frühling: mein Sommerwein ist wahrhaftig aus allen diesen Dingen …“)

Was wird also tatsächlich getrunken in diesen gut 90 Tagen? Eigene Sommerbeobachtungen: Eine beschwingte, doch keinesfalls trunkene Runde um Mitternacht nach vielen Flaschen gereiften Moselrieslings (Balkon eines Weinguts am Ufer der Mosel) … einer der besten Rotweine Kaliforniens am Nachmittag in einem verdunkelten Raum bei 35°C im Schatten (amerikanischer Überraschungsbesuch bei einem Weinkritiker in Berlin) … voller, fruchtiger Chianti zu mit Pesto gebratenen Riesengarnelen (Terrasse eines Restaurants im Süddeutschen) … zum Ausklang eines Essens gekühlter Tawny-Port anstelle des üblichen Vintage (Ostküste Englands) …

Gastro-Ikone Eckart Witzigmann sagt: „Sommer – Zucchini, Möhren, Zwiebeln, Bohnen, rote Bete, Tomaten: Schon die schiere Farbenpracht sorgt leicht für Übermut beim Einkaufen.“

Ist Rainer Maria Rilke deshalb erschöpft? „Die große Sonne ist versprüht, / der Sommerabend liegt im Fieber, / und seine heiße Wange glüht. / Jach seufzt er auf: ‚Ich möchte lieber …‘ / Und wieder dann: ‚Ich bin so müd …‘ “

Jane MacQuitty, Weinkorrespondentin der Londoner Times, hat ihre eigenen Ideen zum Thema: „Beaujolais, mit all seiner überschwänglichen Frucht und Duft, ist der klassische rote Sommer-Durstlöscher, gekühlt zu trinken …“

Von Henry Mancini hat Süßweinkönig Alois Kracher aus Illmitz/Neusiedlersee, den Namen für einen trockenen Weißwein geliehen: „Days of wine and roses“, Tage voller Wein und Rosen.

„Mir geht es erträglich und bringe ich das fabelhafte heiße Wetter in Anschlag, so kann ich selbst sagen: gut. Allerdings fehlt mir meine Verpflegung, vor allem Zeltinger und selbst P[o]ujeaux, trotzdem letztrer neulich im Kurs gesunken ist. Es giebt hier auch Zeltinger, aber die Flasche kostet grade 1 Thaler und das ist mir denn doch über den Spaß. Da vergifte ich mich lieber mit Melniker ruhig noch eine Weile weiter; – Gieshübler Sauerbrunnen muß für alle Schäden aufkommen“, berichtet Theodor Fontane an Tochter Mete aus Karlsbad am 22. August 1893. Gordon Ramsey, britischer Spitzenkoch, serviert beileibe nicht ein Vierteljahr lang nur leichte Kost: „Selbst im Sommer schätzen viele unserer Gäste ein schönes Steak …“

John Keats (1795–1821) steht der sommerliche Sinn nach Höherem: „Oh! How I love, on a fair summer’s eve, / When streams of light pour down the golden west, / And on the balmy Zephyrs tranquil rest / The silver clouds, far – far away to leave / All meaner thoughts …“ [Oh! Wie ich es liebe, an einem schönen Sommerabend, wenn im goldenen Westen Lichtstrahlen sich ergießen, und im lauen Zephiren Silberwolken ruhig rasten, alle niederen Gedanken weit – weit hinter mir zu lassen …]

Winzer wie Hanno Zilliken von der Saar sind da prosaischer: „Sommer? Das muss frischer fruchtiger Riesling Kabinett sein!“ Und dem wäre Arthur Rimbaud sicher nicht abgeneigt: „An blauen Sommerabenden werde ich in den Pfaden, gekitzelt vom Korn, das gemähte Gras niedertreten: träumend werde ich die Kühle an meinen Füßen spüren. Ich werde den Wind meinen unbedeckten Kopf umwogen lassen. Ich werde nicht sprechen, ich werde nichts denken: aber die Liebe wird in meiner Seele aufsteigen, und ich werde weit, weit gehen, wie ein Zigeuner, durch die Natur, – glücklich wie mit einer Frau …“

Doch zurück zum eigentlichen Thema: „Sommerwein?“, meint Katharina Prüm vom Weingut Joh. Jos. Prüm in Wehlen/Mosel, „das ist beinahe so diskriminierend wie ‚Frauenwein‘: quasi nicht ganz Ernst zu nehmen, da in der Hitze das Hirn eh nur zur Hälfte arbeitet.“

Der Filmemacher Thomas Struck geht das ganz pragmatisch an: „Mit Wein überlebt man auch den beschissensten nordischen Sommer – ohne Wein kann man den südlichen Sommer vergessen.“

Und das weise Schlusswort zum Phantom Sommerwein kommt schließlich aus Persien, von Omar Chajjâm: „Die guten seh’n im Wein nur edle Tugend, Die Bösen nur Verbrechen, Trug und List, Wein ist der Spiegel unsres bunten Lebens: Man sieht im Weine, was man selber ist …“

Ursula Heinzelmann ist gelernte Köchin und Sommelière und lebt in Berlin. Sie widmet sich den Themen Essen und Trinken heute schreibender Weise und empfindet Wein sowohl im Sommer als auch im Winter als essenziell.