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Archiv-Artikel

Rasur am Gefühlshaushalt

Der VfL schafft Rang fünf, spielt im Uefa-Cup und steht vor Dortmund und Schalke. Dafür opferte Neururer seinen Schnauzbart – die Bochumer Fans dürften endlich ihre lähmende Skepsis dran geben

AUS BOCHUMCHRISTOPH SCHURIAN

Warum Gerri ausgerechnet am Samstag heiraten musste? Seit sechs Wochen haben sie gejammert, „am letzten Spieltag, wie kannst du uns das antun?!“ Da es das Brautpaar aber selbst kaum aushielt, machte sich die Hochzeitsgesellschaft auf den Weg ins Ruhrstadion; auch weil es ein schöner Brauch ist, dass sich frisch Vermählte in der Halbzeit bejubeln lassen. Auf der Haupttribüne fiel Sonnenlicht auf die Hochzeitsseide, der VfL führte durch Peter Madsen mit 1:0 gegen Hannover 96. Borussia Dortmund, Konkurrent um den UEFA-Cup-Rang, lag in Lautern zurück. Das Brautpaar freute sich am ausverkauften Rund.

Bis in der 41. Minute Thomas Christiansen ein Zuspiel mit der Fußspitze erwischte, der Ball passte unter die Querlatte, der Ausgleich. Gerri und die Seinen schlichen die Stufen hinab, kauerten hinter Plexiglas und ärgerten sich – auch weil ihr Auftritt nur mageren Applaus bekam. Kurzum: Die Nerven lagen blank. Bochumer Urgefühle – Skepsis, lähmendes Entsetzen. Nun war es kein Zufall, sondern Schicksal, dass Christiansen traf, der erst im Sommer von Bochum nach Hannover wechselte und dem hier sein erstes Auswärtstor für 96 gelang.

Pessimismus ist eine tückische Krankheit. Zuerst ergreift es die Zuschauer auf der Haupttribüne, dann die Stehränge, schließlich sind alle angesteckt. Leise wird es, Zweikämpfe gehen verloren, Stürmer mit hängenden Schultern. In Bochum brach die Seuche aus mit Uwe Wegmann, Anfang der 1990er Jahre ein hochbegabter Mannschaftskapitän, dem der Missmut aber leider ins Gesicht geschrieben stand. Mit ihm ging es für Bochum 1993 zum ersten Mal in die zweite Liga. Der bittere Abstieg sollte sich in neun Jahren dreimal wiederholen – und Zuversicht verschütten.

Verweht. „Erfolgreich sein macht Spaß“ hatten Fans am Samstag auf ein Transparent gemalt – eine banale Erkenntnis mit Folgen. Das Spiel endete wie ein Gleichnis gegen die Resignation. Der sonst hilflose Paul Freier hebelte eine Zufallszuspiel mit dem linken Fuß ins linke Toreck und wurde vor Freude begraben von den Körpern seiner Spielkameraden. Der Nationalspieler, der nun wohl doch glatt nach Leverkusen wechseln wird, verabschiedete sich unter Tränen mit seinem ersten Saisontreffer. Und auch Frank Fahrenhorst kennt das Gegenmittel gegen wackelige Knie, köpfte ein zum 3:1 und geht zufrieden zum Meister nach Bremen.

Doch es ist vor allem der Berufsoptimist Peter Neururer, der das Bochumer Schreckgespenst bannte. Dafür hat sich der Gelsenkirchener oft „aus dem Fenster gehängt“ (Neururer), hat Weißwürste verfrühstückt und wie zuletzt Wasserpfeifen geraucht. Mit dem VfL steht der Ex-Schnauz nun am Ende einer dreijährigen Erfolgsgeschichte: Bochum wurde Reviermeister und darf im UEFA-Cup auf die lukrative Gruppenrunde hoffen. Nicht nur für Neururer „ist dieser Endpunkt ein schier unglaublicher Erfolg“ – der Meistertitel der Bremer dagegen reine „Planwirtschaft“.

Neururer saß nach dem Spiel von Alkoholduschen triefend im Presseraum. Nein, so etwas könne man nicht planen, sicher spielten auch „Glücksmomente“ eine Rolle und er meinte damit den Dusel, auf den sich Bochum in den letzten drei Jahren stets verlassen konnte. Nicht zuletzt der Trainer: Als die Pressekonferenz begann, entschuldigte sich Neururer. Er habe die letzte Woche gelogen, habe nicht damit gerechnet, dass sich Dortmund noch den fünften Platz nehmen lässt. Aber das Gegenteil behauptet. Selbst im Presseraum gab es Applaus für den Erfolg des Hochstaplers.