: Tanz ist Sex mit dem Publikum
Das Wissen um Anatomie und Emotion unterscheidet Tänzer von Sexworkern, behauptet Felix Ruckert. Ein Porträt des Choreografen, der im Dock 11 gerade „Zoo der Liebe“ zeigt
VON ARND WESEMANN
Berlin, ein Hinterhof, das Dock 11. Hier habe ich mal einen Tänzer gemietet, der mit entblößtem Gemächt vor mir tanzte. Unaufhörlich schnappte das halb animierte Schwänzchen hoch und runter. Interessant war, dass es als ein Akt der Kunst gemeint war. Kunst ist nämlich gut gegen Scham, wenn ein nacktes Gemächt gegen Bein und Bauch klatscht. Im Dock 11 habe ich mir auch mal in einem Darkroom Wäscheklammern auf die Brustwarzen drücken lassen, bis ich schrie. Tänzer, die ich nicht sehen konnte, weil mir die Augen verbunden waren, schubsten mich wie einen Gekidnappten. Da war ich sogar froh, dass dies Kunst ist. Es erleichtert ungemein, weil Kunst für Ordnung sorgt. Sie stellt Regeln auf, die helfen, Bondage als ästhetischen Akt zu begreifen.
Felix Ruckert hieß der Urheber, ein großer Meister und großer Kerl mit schüchternem Gang, der am ureigentlichen Wesen des Theaters rührt: der Scham. Scham ist das Wesentliche im Theater. Man vergisst nur, dass man zuallererst ein Voyeur ist, der sich an der ausgestellten Schönheit von Schauspielern und Tänzern delektiert. Aber niemand bezahlt das Theater für seine hübschen Darsteller, sondern dafür, dass sich das Theater an unserer Stelle schämt. Für Krieg, Ungerechtigkeit, Misshandlungen, Themen von moralischer Tragweite. Sollte man sich als Zuschauer dennoch nicht schämen, sind probate Frank- Castorf-Methoden sinnvoll – das pornografische Repertoire aus Kopulation und Pinkeln –, um die Scham zu übertreten. Und wenn wir dabei nur kapieren, dass es im Theater die Scham nicht mehr gibt, nur irgendeine Empörung, auf die wir abfahren wie Pawlow’sche Hunde.
Diese Gewohnheiten des Theaters und seines Publikums hat der einst bei Pina Bausch tanzende Choreograf Felix Ruckert genau studiert. Er sah, wie schamvoll das Theater sein Publikum ignoriert, indem Tänzer und Schauspieler so tun, als wären gar keine Zuschauer da. Verschämt sichert das Theater die Bühne wie mit Elektrozäunen, als sei es ein Löwenkäfig. Ruckert reißt die Gitterstäbe nieder, nennt sein neues Stück im Dock 11 „Love Zoo“ und lässt die Käfigtüren offen.
Felix Ruckert sagt, Tänzer sind auch nur Menschen, denen man unter den Prämissen der gesellschaftlichen Scham – „Respekt, Vertrauen, Spiel und Rücksichtnahme“ – begegnen kann. Warum soll man Tänzer nicht anfassen, sie streicheln, ihnen einen Drink spendieren? Setzt man sich in „Love Zoo“ auf entsprechend markierte Stühle, heißt das: Ja, ich will die intime Kontaktaufnahme mit den zwanzig Tänzern. Was ein wenig an sein früheres Stück „deluxe joy pilot“ erinnert. Ein Teil des Publikums war damals tatsächlich frei genug, sich bereit zu erklären, ins Bett gelegt und massiert zu werden. Der andere Teil blieb freiwillig auf Distanz. Der Effekt: „Viele kommen zweimal. Einmal, um die Choreografie zu beobachten, und einmal, um zu sehen, was mit dem eigenen Körper geschieht, mit der vierten, der taktilen Dimension des Tanzes.“
Die Macht der Berührung ist eine neurologische Abkürzung, ohne den Umweg über den erkennenden, analysierenden Teil des Gehirns. Wir reagieren, bevor wir verstehen, was da geschieht. Dass solche unmittelbaren Emotionen passieren können, davor fürchtet sich das Theater in seiner Tradition, allein über das Verstehen funktionieren zu wollen. Doch im Tanz ist das anders. Ohne Berührungen ist er kaum denkbar. Immer berührt jemand jemanden. Tanz, anders als Theater, überwindet die Scham. Dazu braucht er nur eine Form und ein paar Regeln. Und weil Tanz sich nicht für Geschichten interessiert, kann er sich ganz um die Unwägbarkeiten und das Unvorhersehbare kümmern, wenn einander fremde Menschen sich in einem Raum begegnen.
Das war ja auch mal Idee des Theaters, sagt Felix Ruckert, dass man sich wegen eines Ereignisses trifft, von dem alle berührt werden. Und nicht, um sich von der Kanzel herab ein bisschen Aufklärung zu gönnen.
Also umweglos intimer Kontakt. Ich sage, das erinnert mich an einen Swinger-Club. Sexualität, nur in die Form der Kunst gegossen. Sich solche Kunst zu trauen ist ein Akt der Rückeroberung des von der Scham deformierten Körpers, sagt er. Choreografen choreografieren Berührungen, kennen sich aus mit der Anatomie. „Und genau dieses Wissen um Anatomie und Emotion unterscheidet Tänzer von Sexworkern. Im Gegensatz zu Prostituierten gehen Tänzer der Intimität nicht aus dem Weg“, sagt er. „Käufliche Sexualität unterliegt einer starken Formalisierung. Tanz kann diese Formalien überwinden, als Kunst neue Formen ermöglichen.“
So fein redet Felix in einer Bar gegenüber dem Dock 11 und sagt schließlich: „Berührungen kennen wir nur in einem therapeutischen oder privaten Kontext, oder streng ritualisiert wie beim Händeschütteln. Die Berührung gehört zu einem der letzten Tabus. Wenn wir jetzt reden, und ich nehme deine Hand, das wäre komisch, eine andere Ebene. Es würde unser Gespräch sofort sabotieren. Die Berührung wäre so präsent, dass …“ der Text hier enden muss.
Love Zoo, im Dock 11, Kastanienallee 79, 20.–23. Mai, 26.–30. Mai, jeweils 20.30 Uhr