: Der neue Bastelstaat
In Deutschland werden künftig viele Menschen keinen Vollzeitjob mehr bekommen – sie sind dauerhaft auf einen Mix aus Sozialleistungen und Hinzuverdienst angewiesen
Plötzlich tauchten sie in den Berichten der Boulevardblätter auf: die Niedriglöhner, die für 4 oder 6 Euro brutto in der Stunde arbeiten. Dazu veröffentlichten die Zeitungen Listen, nach denen Friseure oder Stallhelfer zu Hungerlöhnen malochen. Nicht für wie viel, sondern für wie wenig Geld Leute in Deutschland in Vollzeit ackern, wurde in den vergangenen Wochen zum Thema.
Die Niedriglöhner stehen für ein Problem: In vielen Dienstleistungsbereichen ist das Gefüge aus Arbeitslohn und Existenzsicherung durcheinander geraten. Eine Hilfsverkäuferin mit einem Stundenlohn von 5,50 Euro brutto die Stunde muss derzeit fast 35 Stunden in der Woche ackern, um auf ein Existenzminimum von 640 Euro zu kommen. So viel erhält ein Sozialhilfeempfänger inklusive der Mietkosten in einer westdeutschen Metropole. Dieses Missverhältnis ist nicht der Beweis dafür, dass die Sozialhilfe zu hoch ist, sondern dafür, dass viele Stundenlöhne inzwischen zu niedrig sind.
Soll der Staat diese Löhne subventionieren, um Arbeit wieder zu einem Mittel der eigenen Existenzsicherung zu machen? Das ist die brisante Frage. In einigen westlichen EU-Ländern, darunter Großbritannien, Finnland und die Niederlande, werden Niedriglöhne bereits öffentlich bezuschusst. All diesen Ländern ist gemein, dass die Arbeitslosigkeit dort tatsächlich gesunken ist – aber diese Beispiele sind nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragbar.
In Großbritannien etwa bekommen zwei Millionen Erwerbstätige einen tax income credit, also einen staatlichen Zuschuss zu ihrem Niedriglohn; die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen ist beeindruckend niedrig. Dort herrschen jedoch andere Bedingungen als hier. Das Niveau der Arbeitslosenunterstützung ist niedriger als bei uns, die Sozialabgaben auf Arbeitslöhne sind geringer und die Billigjobs zahlreicher.
Eine flächendeckende Subventionierung von Niedrigeinkommen würde beim hiesigen Niveau der sozialen Sicherung Milliarden von Euro verschlingen, die dann wiederum über Steuern von anderen Erwerbstätigen aufgebracht werden müssten. Das haben Experten der Wirtschaftsinstitute ZEW in Mannheim und DIW in Berlin mehrfach kritisch dargelegt.
Neoliberale Wirtschaftsforscher schlagen daher vor, die Sozialhilfe beziehungsweise das Arbeitslosengeld II für Erwerbsfähige schlichtweg abzusenken, um sie dadurch in Billigjobs zu zwingen. Doch damit drohte nicht nur vielen Betroffenen die Verelendung. Vor allem müsste man hunderttausenden dieser Erwerbslosen neue Billigjobs zumindest erst mal anbieten können – und auch das ginge nicht ohne eine teure staatliche Subventionierung. Denn Vollzeitstellen zum Niedriglohn sind schwer zu bekommen. Was boomt, sind die Minijobs, zeigt die Statistik. Vielleicht liegt hier die Zukunft: in einer selbst gebastelten Mischung aus Sozialleistung und Hinzuverdienst, so wie es viele Arbeitslose heute schon praktizieren.
Jeder achte arbeitslose Leistungsempfänger in Deutschland hat noch einen Minijob nebenher. Im Osten schöpft jeder dritte Erwerbslose die Hinzuverdienstgrenze aus. Hinzu kommen hunderttausende von Joblosen, die nebenher Schwarzarbeit verrichten. Der Gestaltung dieser Hinzuverdienste muss künftig schärfere Aufmerksamkeit gelten. Die Mischung aus Arbeitslosengeld plus Schwarzarbeit muss gewissermaßen in legale Kombinationen verwandelt werden. Doch davon ist die Sozialpolitik derzeit weit entfernt.
Denn erst einmal hat die rot-grüne Regierung die Bedingungen verschlechtert. Tritt das Arbeitslosengeld II planmäßig in Kraft, leben ab kommendem Jahr drei Millionen Menschen von einer Sozialleistung in Höhe des Existenzminimums. Von einem 400-Euro-Job dürfen die Arbeitslosen dann 60 Euro zusätzlich behalten, haben also inklusive Miete etwa 700 Euro zur Verfügung. Das bisherige Recht ist günstiger: Darin können Arbeitslose von ihrem Einkommen aus dem Minijob 165 Euro anrechnungsfrei nach Hause tragen, haben also im Vergleichsfall mehr als 800 Euro Einkommen.
Einfach nur die Hinzuverdienstgrenzen günstig zu gestalten schafft jedoch auch Probleme: Die Patchwork-Existenzsicherung aus Arbeitslosengeld plus Hinzuverdienst wirft nämlich die Frage nach der Gerechtigkeit gegenüber den Vollzeiterwerbstätigen auf. Der Sozialforscher Hilmar Schneider vom Bonner IZA-Institut hat auf die „Teilzeitfalle“ hingewiesen, die entstünde, wenn sich Erwerbslose massenhaft mit einem Einkommensmix aus Stütze und stundenweisem Nebenjob einrichteten. Für ein Gesamteinkommen von 800 Euro aus Arbeitslosengeld II und – angerechnetem – Minijob müsste man bei den bisherigen Hinzuverdienstgrenzen dann vielleicht nur 15 Stunden die Woche arbeiten. Anstrengende Vollzeitarbeit zu einem Marktlohn von vielleicht 900 Euro netto, möglicherweise auch noch in einem verschleißenden und stumpfsinnigen Job, erscheint damit unattraktiv. Es entsteht eine Ungerechtigkeit gegenüber den wenigen Vollzeit malochenden Schlechtverdienern in Kneipen, Callcentern und bei Zeitarbeitsfirmen.
Kompromisse sind also nötig. Sie bestünden etwa darin, den älteren Langzeitarbeitslosen einen höheren Nebenverdienst zu gestatten. Ein älterer Langzeiterwerbsloser, oft gesundheitlich eingeschränkt, kann in der Landwirtschaft oder Hotellerie vielleicht noch einen Teilzeitjob, aber keine Vollzeittätigkeit mehr ausüben. Und ältere Arbeitslose in wirtschaftsschwachen Regionen im Osten oder Norden können oft auch nicht mehr umziehen in Gebiete mit einem besseren Jobangebot.
Das Potenzial an Nebenjobs jedenfalls ist erstaunlich hoch. Auf 7,5 Millionen ist die Zahl der abgabengeminderten 400-Euro-Jobs gestiegen. Diese Minijobs werden sich kaum wieder in Vollzeitstellen zurückverwandeln lassen. Bisher kommen sie aber vor allem Ehefrauen, StudentInnen, SchülerInnen und RentnerInnen zugute. Nur jeder fünfzehnte Minijobber ist ein Arbeitsloser. Es wäre angebracht, wenn dieses Potenzial vermehrt für Langzeitarbeitslose erschlossen würde. Bediente man sich übrigens der Methoden der Erwerbslosenzählung in Großbritannien, würde man solche Patchworker dann gar nicht mehr als „Arbeitslose“ registrieren.
Mehr Flexibilität in der Verbindung von Stütze und Minijobs – das mag zynisch klingen. Aber vielleicht bedeutet dies ein bisschen mehr Ehrlichkeit angesichts der neuen Armutsmilieus, die in Deutschland seit der Wiedervereinigung entstanden sind. Darin liegt das Eingeständnis, dass Millionen Menschen hierzulande auch künftig keinen sozialversicherten Vollzeitjob mehr finden werden. Viele Leute, besonders in den abgehängten Wirtschaftsregionen, werden vielmehr mit einem Patchwork aus Transferleistungen und Nebenjob auskommen müssen. Die Wahrheit ist: Nicht nur die Zukunft vieler Menschen, auch die Zukunft der deutschen Sozialpolitik liegt in der Improvisation.
BARBARA DRIBBUSCH