Notfalls im Liegen

Knebelverträge, Doppelschichten – und Spaß dabei? Paul Justmans Dokumentation „Standing in the shadows of Motown“ widmet sich den Studiomusikern des Sixties-Soul

Berry Gordy mag „Standing in the shadows of Motown“ sehr. Der Motown-Boss hält die Dokumentation von Paul Justman für eine längst überfällige Würdigung. Schließlich erzählt Justman die Geschichte der Funk Brothers, die als Begleitband hunderte Hits für das Detroiter Soul-Label einspielten und auf 250 Millionen verkauften Schallplatten – CDs nicht mitgerechnet – zu hören sind. Als Motown nach Los Angeles zog, um Kontakte zur Filmindustrie zu knüpfen, wurden sie allerdings nicht mehr gebraucht: An der Studiotür hing ein Zettel, der ihnen mitteilte, dass sie sich einen neuen Job suchen mussten.

Heute leben die letzten verbliebenen Funk Brothers – einige von ihnen sind weit über 70 Jahre alt – zurückgezogen in Detroit und verdienen ihr Geld mit Jazz in den welken Hotellobbys. Insofern klingt aber auch das späte Lob aus Gordys Mund befremdlich, hat er in den Sixties doch selber harte Knebelverträge mit den Musikern gemacht, hat sie in Doppelschichten schuften lassen und ihnen auf den Plattencovern die Credits vorenthalten, weil Namen wie Marvin Gaye und Diana Ross sich fürs Marketing besser machten als Uriel Jones, Eddie ‚Bongo‘ Brown oder James Jamerson.

Offenbar kann man mit den miesen Bedingungen, unter denen Musiker arbeiten, keinen Skandal machen. Dabei hat sich am Studiosystem, das Gordy mit dem „Sound of young America“ in den Sechzigerjahren bis zur Marktführerschaft perfektionierte, wenig geändert. Im Gegenteil. Durch MTV ist die Wahrnehmung der Musik vollkommen auf den Star konzentriert. Wer kennt den Schlagzeuger, der für Pink trommelt? Wer weiß, wie der Gitarrist von Robbie Williams heißt? Und wer hat in Videos von Mariah Carey schon einmal auf die Bläser geachtet?

Auch deshalb ist es gut und wichtig, dass es „Standing in the shadow of Motown“ gibt. Justman interessiert sich allein für die Musiker hinter den Soullegenden. Für Earl van Dyke, dessen hämmerndes Klavierspiel als „gorilla piano“ galt. Für Robert White, dessen Gitarrenintro zu „My Girl“ in den USA jedes Kind summen kann. Oder für den 1983 verstorbenen James Jamerson, der als „Funk Machine“ selbst betrunken punktgenau Bass spielte. Notfalls im Liegen.

Die Funk Brothers funktionierten, das war das Geheimnis von Motown, oder wie Berry Gordy 1965 erklärte: „Bring uns jemanden, der nur drei Töne singen kann. Wir bauen um diese drei Töne ein Arrangement, eine Melodie und Lyrics dazu – und wir werden sie erfolgreich verkaufen.“ Dass hört man auch heute noch, wenn Justman aktuelle Sänger und Sängerinnen mit den Funk Brothers für ein Reunion-Konzert zusammenbringt. Die alten Lieder sind Hits geblieben, da kann die Bluesschrulle Joan Osborne oder der schluffige Ben Harper mit seiner Marvin-Gaye-Hommage nichts falsch machen. Tolle Atmosphäre und meistens tolle Bilder, bei denen man gemeinsam mit der Kamera durch die Melodiewolken fliegt: „ain’t no mountain high enough“. Nur das Tief fehlt. Es gab zwar Abtrünnige, enttäuschte Songwriter, die Motown verließen, weil Gordy alles kontrollierte. Aber sie kommen im Film nicht vor. Nur Eddie Willis weiß noch, dass Gordy seine Musiker bespitzeln ließ, um herauszufinden, wer nebenbei für andere Studios arbeitete. Dass Gordy dann aber diese Label aufkaufte und auf Eis legte, um so die Einzigartigkeit des Motown-Sounds zu bewahren, erfährt man nicht.

Auch in Sachen Rassenkonflikte fragt Justman, der unter anderem Biografiefilme über Foreigner und Deep Purple gedreht hat, nicht weiter nach. Dabei ist der weiße Bassist Bob Babbitt für einen Moment kurz vorm Heulen, wenn er an die Zeit der Riots zurückdenkt, als er zugleich Teil des Problems war und als Motown-Musiker doch auch Teil der Lösung. Das Ergebnis hört man auf Marvin Gayes „What’s going on“: Sanft rollt Babbitts Bass, „war is not the answer“, sagt der Text von 1971. Amerika war um eine Hymne reicher, Gordy wurde als Vorbild der Integration im Kongress gepriesen. Und Babbitt? War längst mit neuen Songs beschäftigt. HARALD FRICKE

„Standing in the shadows of Motown“. Regie: Paul Justman. USA 2002, 108 Min.