: „Mutti, die schlagen mich tot“
aus Köln BARBARA BOLLWAHN
Als Stephan Neisius 18 Jahre alt war, passierte etwas mit ihm. Was, weiß niemand so genau. Er war zu einem Lehrlingsaustausch in Frankreich. Nach einigen Tagen rief eine Betreuerin bei seiner Mutter in Köln an und sagte, dass sich ihr Sohn merkwürdig verhalte und er vorzeitig zurückgeschickt werde. Sein acht Jahre älterer Bruder Bernd holte ihn vom Bahnhof ab und erkannte ihn kaum wieder.
Er war äußerst erregt, hörte Stimmen, fühlte sich verfolgt, wirkte abwesend. Die Familie ließ ihn gegen seinen Willen in die Notfallpsychiatrie einweisen. Die Diagnose: schizoide Psychose. Nach vier Wochen haute er aus der Klinik ab und stürzte sich in der Wohnung der Eltern aus dem Fenster seines Zimmers im siebten Stock. Er fiel 21 Meter in die Tiefe. Wie durch ein Wunder überlebte er den Selbstmordversuch mit einer nicht lebensbedrohlichen Rückenfraktur und gebrochenen Unterschenkeln.
Das war 1990. Nach einem Jahr Rehabilitation war er lebensfroh und körperlich wiederhergestellt. Aber mit Einschränkungen: Die Schreinerlehre konnte er nicht beenden, Fußball und American Football durfte er nicht mehr spielen. Er wurde ein ambitionierter und guter Bassist, lebte von Sozialhilfe und engagierte sich im „Gebäude 9“, einem Club- und Theaterprojekt in Köln. Nach dem Tod des Vaters im gleichen Jahr, eines Alkoholikers, der an einem Hirnschlag starb, wurde sein Bruder Bernd zum Vaterersatz. „Der Stephan hatte viele Talente und war immer am Brasseln, Machen und Tun“, sagt er. Er sei „eine ganz eigene Nummer“ gewesen. Habe sich nur schwer integrieren lassen.
Im Mai vergangenen Jahres verhielt sich Stephan Neisius, der gerne kiffte, wieder seltsam. Sein Bruder, die Mutter und Freunde bemerkten an dem mittlerweile 31-Jährigen ein ähnliches Verhalten wie damals. Er war sehr erregt, wurde schnell laut, ließ niemanden an sich ran. Vieles deutete auf einen psychotischen Schub nach dreizehn Jahren.
Musik war sein Leben. Als Musiker der englischen Independent-Band „Cornershop“ ihm anboten, in ihrem Londoner Studio Aufnahmen zu machen, hoffte er auf den Durchbruch. Am Abend des 11. Mai vergangenen Jahres erzählte er seiner Mutter, bei der er wohnte, davon. Der Mutter war’s recht. Doch sie machte sich Sorgen. Denn kurz zuvor war ihr Sohn wegen einer akuten Thrombose am Bein im Krankenhaus. Auf eigene Gefahr ließ er sich entlassen. Regelmäßig musste er ein blutverdünnendes Mittel spritzen. Die Mutter wollte, dass er die Behandlung abschloss, bevor er sich auf den Weg nach London machte. Darüber gerieten sie in Streit.
Eine Nachbarin, zu der die Polizei wiederholt gerufen wurde, weil ihr Lebensgefährte sie fortwährend verprügelte, wählte den Notruf wegen Ruhestörung und gab an, sich Sorgen um die Mutter zu machen. Gegen 22 Uhr kamen vier Beamte in das Mehrfamilienhaus in der Kölner Innenstadt, dessen Fassade eine Marienstatue ziert. Seitdem hat die rheinische Stadt des Frohsinns einen Polizeiskandal. Denn Stephan Neisius überlebte den Einsatz nicht.
Seit dem 26. Juni müssen sich vor dem Kölner Landgericht sechs Polizisten zwischen 25 und 40 Jahren wegen Körperverletzung mit Todesfolge verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, Stephan Neisius derart misshandelt zu haben, dass er an den Folgen starb. Nach dem Obduktionsbericht war ein Hirnödem die Todesursache. Die Ärzte stellten Hämatome am ganzen Körper fest und einen Schuhsohlenabdruck im Gesicht. Ein Beamter und eine Beamtin, die Zeugen der Misshandlungen auf der Wache waren, hatten ihre Kollegen angezeigt.
Dutzende von Freunden von Stephan Neisius kommen seit der Prozesseröffnung zu den Verhandlungen, die alle zwei Tage stattfinden. Sie organisieren Benefizkonzerte und fordern auf Unterschriftslisten „eine vollständige Aufklärung“ des Todes ihres Freundes, den sie als „einen kölschen Typen“ – gutmütig, lustig, hilfsbereit – beschreiben. Sie wissen, dass es ihm nichts mehr nützt. Sie tun es auch für sich. Damit sie seinen Tod besser verarbeiten können.
Als die Beamten vor der Wohnung in der vierten Etage stehen, weigert sich Stephan Neisius, zu öffnen. Die Beamten brechen die Tür auf und stürmen hinein, vorbei an der Mutter, die angeblich in Gefahr sein soll. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, stürzen sie sich auf Stephan Neisius, der mit einem Hockeyschläger einige Glastüren zerschlagen hat. Die Äußerung der Mutter, ihr Sohn sei krank, beachten sie nicht. Sie werfen ihn zu Boden und fesseln ihn an Armen und Beinen. Auf den 62 Treppenstufen hinab zum Polizeiwagen entgleitet er ihnen mehrere Male. Nur unter größter Kraftanstrengung gelingt es ihnen, den jungen Mann, der bei etwa 1,70 Meter Körpergröße einhundert Kilo wiegt, zu transportieren.
In den Funkprotokollen wird Stephan Neisius als „Irrer“ beschrieben, der sich wie von Sinnen aufführt und wirre Sachen wie „Ich bin Jesus“ schreit. Trotzdem wird mit ihm verfahren, als sei er ein „normaler“ Randalierer und nicht jemand, der vielleicht ärztliche Hilfe braucht. In der Wohnung anwesende Rettungssanitäter kümmern sich lediglich um einen Beamten, der sich geschnitten hat.
Um Stephan Neisius kümmern sich die Polizisten. Auf ihre Art. Sie schleifen ihn durch die Sicherheitsschleuse in eine Zelle. Wenig später liegt er in einer Blutlache. Kurz darauf wird er zur Blutentnahme ins Krankenhaus gebracht. Dort kollabiert er und fällt ins Koma. Zwölf Tage später ist er tot.
Blass, zum Teil mit tiefen Ringen unter den Augen, sitzen die sechs Beamten auf der Anklagebank. Wohl scheint sich keiner in seiner Haut zu fühlen. Doch Reue zeigen sie nicht. Fünf der Angeklagten äußern sich zum Teil ausführlich zu den Vorwürfen. Einer verweigert die Aussage.
Ein 29-jähriger Polizeimeister, gegen den es in der Vergangenheit eine Reihe von Strafanzeigen wegen Körperverletzung im Amt gab, die alle eingestellt wurden, gibt vor Gericht zu, Stephan Neisius mehrfach mit der Faust auf die Beine geschlagen zu haben. Um die Muskulatur zu lockern, damit er gefesselt werden kann. „Herr Neisius war ein ganz normaler Randalierer, wie man ihn zigmal am Tag hat“, sagt er trocken. Und der Fußtritt in den Hintern von Stephan Neisius in der Zelle sei prophylaktisch gewesen: „Er hätte sich umdrehen und mich dadurch zu Fall bringen können.“
Sein 28-jähriger Kollege glaubte sich sogar in Lebensgefahr. Als er Einwegspritzen im Wohnzimmer sah, die Stephan Neisius zur Behandlung seiner Thrombose brauchte, war für ihn klar, er hatte „es nicht nur mit einem hysterischen Randalierer, sondern auch mit einem Drogenkonsumenten“ zu tun. Seine „größte Sorge“ war, sich zu infizieren. „Dadurch kann nämlich das ganze Leben verhunzt werden“, erklärt er dem Gericht. Es sei darum gegangen, „den Widerstand von Stephan Neisius zu brechen“, und das sei nur „mit massivster Gewalt“ möglich gewesen. Als auch Pfefferspray nicht die gewünschte Wirkung zeigt und Stephan Neisius sich weiterhin wehrt, schlägt der Beamte ihn auf den Rücken und ins Gesicht. Vor Gericht erklärt er: „Ich dachte, der ist ja eh schmerzunempfindlich.“
Auf die Frage des Richters, ob er sich niemals gefragt habe, es vielleicht mit einem Schizophrenen zu tun zu haben, antwortet der Polizist: „Daran habe ich nicht so gedacht. Für uns war das primäre Ziel, die Lage sicherzustellen und uns zu schützen.“
Die Schläge und Tritte seiner Kollegen will er, wie auch andere Angeklagte, nicht gesehen haben. Weil er sich „ausschließlich auf Stephan Neisius konzentriert“ und seine Brille nicht getragen habe. „Die benutze ich zum Autofahren“, behauptet er, „beziehungsweise wenn ich was genau sehen muss“. Die Misshandlungen musste er offenbar nicht genau sehen.
Nur einer der Angeklagten, ein 27-jähriger Beamter, zeigt einen Anflug von schlechtem Gewissen. „Ich habe mir schon meine Gedanken gemacht, ob der Abend nicht anders hätte verlaufen können und ob ich mit meinem Schlag dazu beigetragen habe.“ Aber er schränkt sofort ein. „Ich musste einen Schlag abwehren.“ In seiner polizeilichen Vernehmung hatte er angegeben, dass Stephan Neisius den Beamten gesagt hatte, Drogen und Schmerzmittel genommen zu haben und nichts zu merken. Zudem hatte der Polizist ausgesagt, sich geärgert zu haben, „weil ich die Kontrolle verloren hatte“. Doch auch diese Aussage relativiert er. „Na ja, natürlich ärgert es mich auch noch heute, Herrn Neisius geschlagen zu haben. Aber ich hatte keine andere Wahl.“
Seine Worte quittiert das Publikum mit empörtem Gelächter. Der Richter bittet, von zustimmenden oder ablehnenden Kommentaren abzusehen. Wohl deshalb bleibt es still im Saal, als sich der Angeklagte zum Ankläger aufspielt. „Mein Leben ist versaut. Ich habe eine längere Haftstrafe in Aussicht. Ich bin Polizist und kann nichts anderes. Ich bin verlobt, wollte heiraten, das steht jetzt alles in den Sternen.“
Die Mutter von Stephan Neisius und sein Bruder Bernd treten als Nebenkläger auf. Reglos verfolgen die Angeklagten die Aussage der Mutter, einer 68-jährigen, untersetzten, kleinen Frau, die ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und ein graues Kleid mit schwarzen Bündchen trägt. „Der Stephan war ein friedlicher Mensch, der keinem Unrecht tat“, erzählt sie in dem typischen kölschen Singsang. „Wie gelähmt“ habe sie auf dem Sofa gesessen, während ihr Sohn „zusammengeschnürt wurde wie ein Paket“. Immer wieder habe er geschrien „Mutti, Mutti, was machen die mit mir? Die schlagen mich noch tot.“ Couragiert kontert sie die zum Teil aberwitzigen Fragen der Verteidiger. Beispielsweise die, ob ihr Sohn ihr öfter etwas verboten habe, so wie an diesem Abend, die Tür zu öffnen. „Nein“, entgegnet sie. „Ich sah auch nicht ein, was die Polizei sollte, junger Mann. Der Streit war längst vorbei.“
Wäre die Polizei an diesem Abend zehn Minuten später gekommen, Stephan Neisius wäre möglicherweise noch am Leben. Die Mutter erzählt dem Gericht, dass ihr Sohn auf einen Freund gewartet habe. „Der Stephan hatte ihm gesagt, er soll ihn abholen, weil er das Gefühl hatte, es würde was Schlimmes passieren.“
Spendenkonto: Bernd Neisius, SK Köln, Kontonummer: 9 013 954, BLZ 370 501 98