: Talk mit den Taliban
aus Kabul JAN HELLER
Eine „klare Linie“ müsse gezogen werden „zwischen den gewöhnlichen Taliban, die wirkliche und ehrliche Söhne des Landes sind, und jenen, die diesen Namen weiterhin benutzen, um Frieden und Sicherheit im Land zu stören“. Niemand habe „das Recht, andere unter der Beschuldigung, Taliban zu sein, zu verfolgen und zu verurteilen“. Diese Worte von Präsident Hamid Karsai haben wie kein anderes Ereignis der letzten Zeit die innenpolitische Debatte in Afghanistan bestimmt. Seine Rede hielt Karsai bereits am 30. April. Die Nachbeben dieses gewagten Vorstoßes halten an.
Rückendeckung erhielt Karsai vom UN-Sonderbeauftragten Lakhdar Brahimi. Ohne das T-Wort in den Mund zu nehmen, sagte er im Mai vor dem UN-Sicherheitsrat: „Jene, die sich dem Friedensprozess nicht widersetzen und gewaltlosen Mitteln verpflichtet sind, müssen politischen Spielraum und gleiche Möglichkeiten erhalten, um dem Friedensprozess zu helfen – ungeachtet ihrer politischen oder ethnischen Zugehörigkeit.“
Im Mudschaheddin-Lager sorgten die Verständigungsangebote für wütende Reaktionen. In der Wochenzeitung Payame Mujahid“ (Stimme des Mudschahed), Sprachrohr der Fraktion um den mächtigen Verteidigungsminister Abdul Qasim Fahim, bezeichnete deren Chefideologe Hafisullah Mansur Karsais Äußerungen als „Verrat am Islam, Verrat an der Nation, Verrat an der Menschlichkeit“. Studenten forderten Karsais Rücktritt. Nach Einschätzungen von Diplomaten in Kabul waren ihre Demonstrationen vom Geheimdienst NSD organisiert worden. Diese von Gruppen aus dem Pandschabtal bestimmte Fraktion fürchtet um ihr Machtmonopol, sollten neben ehemaligen Taliban auch andere paschtunische Gruppen wieder stärker ins Regierungslager einbezogen werden. Außerdem haben es sich verschiedene Machthaber, die zur früheren Nordallianz gehörten, zur Gewohnheit gemacht, ihre Gegner als „Taliban“ zu denunzieren und militärische Aktionen gegen sie als Antiterrormaßnahme zu rechtfertigen. Warlord Ismail Khan aus Herat etwa, der sich als „Emir“ Westafghanistan bezeichnet und nur pro forma der Kabuler Regierung Treue bekundet, bekämpft unter diesem Vorwand seinen Gegner Amanullah Khan, einen paschtunischen Warlord. Um Amanullah haben sich auch Opfer Ismail Khans antipaschtunischer Politik gesammelt, der zeitweilig Händler dieser ethnischen Gruppe nicht nach Herat ließ und derzeit versucht, seinen Herschaftsbereich auf die benachbarte Provinz Badghis auszudehnen, indem er dort tadschikisch-paschtunische Zwistigkeiten schürt. Hamid Karsai beließ es angeblich nicht bei Worten, um Kontakt mit den Taliban aufzunehmen. Nach Informationen des arabischen Fernsehsenders al-Dschasira sollten bereits Anfang Mai Gespräche Karsais mit dem früheren Taliban-Gesundheitsminister stattfinden, der als einziger gut Englisch beherrschender Taliban-Führer zeitweise als deren Sprecher agiert hatte. Doch diese Kontakte scheinen, falls sie überhaupt zustande kamen, bisher nicht zu greifbaren Ergebnissen geführt zu haben.
Erfolgversprechender scheint ein zweiter Kanal zu sein. Die in London erscheinende arabische Zeitung Al-Hayat berichtete Mitte Mai, dass von der US-Botschaft in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad über Mittelsmänner als gemäßigt geltende Taliban-Führer kontaktiert worden seien. Eine Webseite „Islamic Studies and Research“, die als Sprachrohr des Terrornetzwerks al-Qaida gilt, bestätigte diese Kontakte indirekt, indem sie eine Zurückweisung des Angebots durch den früheren afghanischen Innenminister zitierte: „Als ein einfacher Soldat in der Taliban-Bewegung kann ich es nicht akzeptieren, mit Karsai am Verhandlungstisch zu sitzen. Mit ihm und den Amerikanern zusammenzusitzen, betrachte ich als Akt des Verrats am muslimischen afghanischen Volk.“
Die Taliban sind zersplittert
Das könnte Verschleierungstaktik sein. Al-Hayat zitiert wenige Tage später vier angebliche Forderungen der Taliban an die US-Seite für Gespräche: einen ranghohen Verhandlungspartner, die Definition einer Gesprächsagenda, eine Erklärung, dass die Taliban keine terroristische Bewegung seien, und die Freilassung der Gefangenen in Guantánamo.
Laut Webseite der Hindustan Times vom 16. Juni habe die US-Seite Gegenbedingungen gestellt, darunter die Ersetzung Mullah Omars als Chef der Taliban und die Freilassung von US-Gefangenen. Offiziell hat Washington allerdings nie zugegeben, dass die Gegenseite Gefangene gemacht hat, und außer einigen Taliban-Statements gibt es dafür auch keinerlei Hinweise.
Klar ist, dass sich die Taliban-Bewegung nach dem Fall ihres Regimes Ende 2001 aufgesplittert hat. Da ist einerseits der militante Flügel, der für eine Serie von Angriffen auf US- und afghanische Regierungstruppen sowie Entwicklungshelfer verantwortlich gemacht wird. Angeblich soll er nach wie vor von Mullah Omar angeführt werden, über dessen Aufenthaltsort es nur Spekulationen gibt. Omar soll vor einigen Wochen Mullah Bradar („Bruder“), der im selben Dorf geboren wurde wie der Taliban-Chef, zum Militärchef ernannt haben. Unter ihm agieren drei Regionalkommandeure: Achtar Mohammed Usmani, der frühere Korps-Kommandeur im Taliban-Zentrum Kandahar; Mullah Abdul Rasak, ein weiterer ehemaliger Innenminister, sowie Mullah Dadullah, der ehemalige Mann fürs Grrobe. Er soll nicht nur mehrere Massaker an der Hasara-Minderheit in Zentral- und Nordafghanistan selbst geleitet haben, sondern auch maßgeblich an der Sprengung der berühmten Buddhastatuen in Bamian beteiligt gewesen sein.
Diese Gruppe verfügt keienswegs über eine erkennbare Basis in der afghanischen Bevölkerung und ist zu größeren Operationen nicht in der Lage. Sie profitiert vor allem von dem politischen Vakuum in vielen Gebieten, das auf fast völlig fehlende Regierungspräsenz sowie das Ausbleiben sichtbarer Wiederaufbauarbeiten zurückgeht. Schließlich spielen auch zahlreiche Übergriffe von US-Truppen gegen afghanische Zivilisten – willkürliche Durchsuchungen und Verhaftungen, Eindringen in Frauen vorbehaltenen Bereichen von Häusern, „Kollateralschäden“ bei Bombardements – den Karsai-Gegnern in die Hände.
Die „Diener des Korans“
Parallel dazu bildete sich Anfang 2002 eine politische „Partei“ ehemaliger gemäßigter Taliban, die sich den Namen Choddam al-Furkan“ (Diener des Korans) gab. Eine islamistische Gruppe gleichen Namens war bereits Mitte der 60er-Jahre in Kabul entstanden. Sie schloss sich später einer Mudschaheddin-Bewegung im Kampf gegen die Sowjets an und ging schließlich Mitte der 90er-Jahre in den Taliban auf. Ihr Führer ist ein Geistlicher namens Amin Mudschaddedi, der noch kurz vor dem 11. September eine Fatwa erlassen hatte, der zufolge die Taliban-Gegner von der Nordallianz „Ungläubige“ seien, die straflos getötet werden dürften. Heute spricht er von Demokratie und gewaltlosem politische Kampf. Zu den „Choddam“ gehören auch der ehemalige Taliban-Bildungsminister Arsala Rahmani, ein Paschtune aus Khost, sowie der frühere Vizeminister Abdul Rahman Hotak, von dem gesagt wird, er habe die Zerstörung vorislamischer Exponate im Kabuler Museum durch einen mit Vorschlaghämmern bewaffneten Taliban-Trupp unter Führung seines eigenen Ressortchefs abgelehnt und sei deshalb degradiert worden.
Choddam-Sprecher beteuern, sie lehnten den Dschihad-Kurs der militanten Taliban ab und wollten Teil des politischen Prozesses in Afghanistan werden. Es ist jedoch unklar, ob dies ihre wirkliche Überzeugung oder nur ein Feigenblatt der Militanten ist. Schließlich finden sich auch in der afghanischen Regierung, zumindest auf Provinz- oder lokaler Ebene, frühere Taliban. Dazu gehören der Gouverneur der Provinz Paktika im Südosten, Mohammed Ali Dschalali, der Kontakte zu den „Choddam“ haben soll, sowie ein Distriktgouverneur in der Nachbarprovinz Ghasni, der schon unter den Taliban diese Position innehatte.