: Preisgekröntes Wir-Gefühl
Ein generationsübergreifendes Wohnprojekt und der lange Atem seiner Planer
von SILVANA RICHTER
Hier eine Salzstange, dort ein Keks … das erste Treffen ist sofort nach Rudys Geschmack. Er ist direkt mit allen gut Freund und gibt mir zu verstehen: Hier will ich bleiben! Typisch Hund, denke ich, sieht mal wieder nur seinen eigenen Vorteil.
Was es für meinen Mann und mich bedeutet, in diesen Verein einzutreten, interessiert unseren Mischling nicht die Bohne. Mich aber schon. Allein bei dem Gedanken an wöchentliche Sitzungen und diverse Untergruppentreffen sehe ich meine Freizeit zusammenschmurgeln wie wässriges Schweinefleisch in der Pfanne. Das Vorhaben will gut überlegt sein. Schließlich ist W. I. R. e. V. nicht irgendein Freizeitclub, sondern ein Verein für Wohnen. Eine Verbindung auf Lebenszeit sozusagen.
Im Bioladen hatte ich ihn entdeckt, den Aushang: „Suchen Sie eine aktive Nachbarschaft für Jung und Alt, Familien und Singles?“ Bisher hatten wir eigentlich bloß nach einer Eigentumswohnung gesucht. Aber warum nicht? Unter der angegebenen Telefonnummer meldet sich Birgit Pohlmann-Rohr. „Kommen Sie doch einfach mal zu unserem Donnerstagstreffen“, schlägt sie vor. Und da sitze ich nun in dem nüchternen Versammlungsraum eines Dortmunder Gemeindehauses und studiere Übersichtspläne und Grundrisse.
Um einen begrünten Platz sind U-förmig drei Baukörper gruppiert: vier Reihenhäuser, ein dreistöckiger Geschossbau mit sechzehn Eigentumswohnungen und ein Gemeinschaftshaus mit Versammlungsraum, Gästezimmer, Waschküche, Werkstatt und Fahrradabstellplätzen – alles durch Laubengänge verbunden und barrierefrei zu erreichen. Als ökologischer Standard ist geplant: Blockheizkraftwerk, Regenwassernutzung, Vier-Liter-Haus, Photovoltaikanlage und Carsharestellplatz.
Das Grundstück liegt an einem Park am Rande der westlichen Innenstadt. „Genau das Richtige für mich!“, glaube ich Rudy bellen zu hören und sehe ihn bereits mit mir und anderen Projektmitgliedern Joggingrunden drehen.
„Im Geiste wohnen wir schon alle zusammen“, erklärt der Vereinsvorsitzende Michael H. Urban in der Pause. Einige Nikotinsüchtige rauchen vor der Tür, die anderen tauschen Urlaubserlebnisse aus oder wuseln in der Küche rum, um Gläser für den Sekt bereitzustellen. Ein Gruppenmitglied hat Geburtstag. Das ist der Vorteil, wenn man nicht alleine baut, denke ich: Da gibt es bei jedem Treffen etwas zu feiern.
Als ich allerdings höre, dass die Gruppe bereits seit fünf Jahren an der Realisierung ihres Projekts arbeitet, vergeht mir die Partylaune. Vorsichtig erkundige ich mich, ob schon über den Baubeginn gesprochen wurde. „Klar, bei jedem Treffen!“, antwortet Beate Gaide mit einem Augenzwinkern. „Aber nächstes Jahr soll es tatsächlich losgehen.“ Noch bevor ich aufatmen kann, schiebt sie hinterher: „Aber nur, wenn alle Wohneinheiten vergeben sind!“
Die Betriebswirtin ist meine „Patin“, meine persönliche Ansprechpartnerin. Beate ist mir auf Anhieb sympathisch. Die mollige junge Frau erzählt von ihren Katern und von ihrem Hobby Bildhauerei. Für ihre Wohnung im WIR-Projekt plant sie einen Wintergarten als Werkstatt ein. Ursprünglich wollte Beate mit ihrer zukünftigen Nachbarin auch einen gemeinsamen Whirlpool bauen lassen. Eine Anfangsspinnerei, wie sie sagt, viel zu teuer.
Michaels Bemerkung vom geistigen Zusammenwohnen wundert mich nicht. Inhalt und Form der Pausengespräche lassen auf diverse freundschaftliche Beziehungen schließen. Wer über so viele Jahre hinweg mit der Suche nach einem geeigneten Konzept, Architekten und Grundstück beschäftigt ist, lernt die liebenswerten Seiten seiner Nachbarn in spe kennen. Und die Macken natürlich auch.
Ich denke an meine Eltern. Ihr Rentnerdasein hätte durch ein solches Projekt enorm gewonnen. Mein erzählfreudiger Vater hätte jemanden zum Plaudern und obendrein Aufgaben für seine rastlosen, handwerklich geschulten Hände gefunden. Und meine Mutter hätte später als Witwe nicht hilflos zwei Tage in der – zum Glück leeren – Badewanne liegen müssen, in die sie bei einem Schwächeanfall gestürzt war.
Doch welche Vorteile brächte uns jetzt eine aktive Nachbarschaft? Rudy, Spezialist im Betteln, würde innerhalb kürzester Zeit aus allen Fellnähten platzen. Aber für die Urlaubsplanung wäre es gut: Allein an diesem ersten Abend bieten mir spontan drei Vereinsmitglieder an, Rudy zukünftig in Pension zu nehmen – Blumen gießen und Postkasten leeren inklusive.
Auf dem Nachhauseweg überlege ich, wie ich meinen Mann überzeuge. Ich höre schon seinen Einwand: „Wohnprojekt? Mit dreißig Leuten? Das heißt dreißig verschiedene Meinungen zu jedem Nagel, der da verbaut werden soll. Geh mir bloß weg!“ Ein halbes Jahr später beugt er sich mit einem Stück Kuchen in der Hand über U-förmig zusammengeklebte Styroporklötze. Die WIR-Mitglieder haben sich zu einem Wochenendarbeitstreffen getroffen, Thema: Innenhofgestaltung. Dazu haben einige aus der Gruppe drei tischplattengroße Modelle gebaut. Die Kinder nehmen eins davon in Beschlag. „Hier kommt die Schaukel hin“, bestimmt die sechsjährige Luisa. Daneben baut Max zusammen mit seinem Vater ein abenteuerliches Kletterhaus. „Jetzt habe ich endlich eine Vorstellung davon, wie groß dieser Platz überhaupt ist und was sich da realisieren lässt“, sagt Beate mit einem zufriedenen Blick auf ihre Modell-Boulebahn.
Boule spielen findet mein Mann gut. Und das Wohnprojekt mittlerweile auch. Vor allem, da wir unsere Wohnung selbst planen können. Kein Grundriss im Projekt gleicht dem anderen, die Größen variieren von fünfundfünfzig bis hundertzweiundsechzig Quadratmeter. Entscheidend war allerdings mein Argument, dass wegbröselnde Freundschaften schwieriger zu ersetzen sind und die bunt gemischte WIR-Gruppe diesbezüglich eine gute Investition in die Zukunft ist.
In puncto Alter, Familienstand und Bankguthaben ist die Gruppe breit gefächert. Doch bei ökologischen, politischen oder sozialen Themen liegen die Vorstellungen der Mitglieder erstaunlich nah an den unsrigen. So viele gleich gesinnte Nachbarn fänden wir so schnell nicht wieder.
Am Sonntagmorgen empfängt uns der Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Die Modelle vom Vortag haben Tellern und Tassen Platz gemacht. Rudy wittert Extraportionen und klappert unermüdlich die Runde ab. Beate reicht mir die Brötchentüte und erkundigt sich nach dem Stand der Diskussion zwischen meinem Mann und mir. „Ja, ja, die Männer!“, lästert sie. „Wenn die hören, sie sollen mit einer Gruppe zusammen bauen und wohnen, bekommen sie plötzlich Angst.“ Als wir später das Geschirr abräumen, erfahre ich, dass sich jede Menge Singlefrauen für das Projekt interessieren. Und nur ein allein stehender Mann. Jürgen Stitz, ein grau melierter Mittfünfziger, der gerade mit beiden Armen in Spülwasser hantiert.
Ein paar Wochen später knallen erneut die Sektkorken. Die Gruppe hat einen Preis gewonnen! Eine tolle Bestätigung, finden alle. An dem Wettbewerb „Wie wollen wir wohnen?“ haben sich bundesweit über hundert Projekte beteiligt. Grund für die Auszeichnung war laut Jury das „WIR-Gefühl“. Für meinem Mann und mich bringt es die Entscheidung. Wir sind dabei.
Bevor die Gruppe über unseren Aufnahmeantrag abstimmt, müssen wir zum Finanzberater. Einkommen, Guthaben, Schulden – alles wird abgeklopft. Nur so ist gesichert, dass Interessenten sich nicht finanziell übernehmen und während der Bauphase das Projekt gefährden.
Jetzt gehören wir dazu und dürfen mitstöhnen, wenn sich die Sitzungen mal wieder bis spät in die Nacht ziehen. Dürfen mitzittern, wenn Hiobsbotschaften das preisgekrönte WIR-Gefühl strapazieren: Die Feuerwehr fordert ein zweites Treppenhaus; für den Kauf des Grundstücks müssen die Vereinsmitglieder eine Gesellschaft gründen; Jürgen hat bis zum Stichtag immer noch keinen Käufer für sein Zechenhäuschen gefunden und scheidet als Bauherr aus. Im Gegenzug können wir uns nun mitfreuen, wenn uns die Banken attraktive Zinskonditionen anbieten; wenn unser Projekt erneut mit einen Preis belohnt wird; wenn die Interessentin für das letzte freie Reihenhaus sich bereit erklärt, eine Etage als Mietwohnung auszubauen und an Jürgen zu vermieten.
Und dann, Mitte März dieses Jahres, ist es so weit: der erste Spatenstich! Die Sonne brennt die Regenwolken weg. Die Presse fotografiert. „Dass ich das noch erleben darf!“, beginnt Christa ihre Rede. Die zweiundsechzigjährige Therapeutin ist von Anfang an dabei, das heißt seit 2.200 Tagen! Die Zeit habe viel Positives gebracht: „Inzwischen sind wir erprobt im Konfliktlösen.“
2.200 Tage – das sind sechs Jahre! Oder anders ausgedrückt: fast ein Rudyleben. Mit Mails wie „Hoffentlich schafft er’s!“ bangte die Gruppe wenige Wochen zuvor noch um seine Gesundheit: Milztumor, Notoperation. Nun stapft er wieder wacker zum Buffet. Wie hatte es unser Vorsitzender formuliert? Im Geiste wohnen wir schon alle zusammen – mit Rudy …
SILVANA RICHTER, 50, ist Fan von Wohngemeinschaften. Beim Einzug ins WIR-Projekt wird sie ihr WG-Leben aufgeben und nach elfjähriger Unterbrechung wieder mit ihrem Mann zusammenziehen