Zufriedenheit gibt es nicht

Sind Lehrer heute zu fürsorglich mit Schülern? Und wie gelingt es, mit Standard-Unterricht coole Klassen zu motivieren? Im Streitgespräch über das Arbeitszeitmodell: Schulaufsichtsleiter Norbert Rosenboom und Kunsterzieherin Beate Pohlendt

„In der Oberstufe dürfen sie nicht Klausuren streichen. Die müssen fürs Abitur trainieren“: Beate Pohlendt

Moderation: KAIJA KUTTER

taz: Herr Rosenboom, Deutsch wird im Lehrerarbeitszeitmodell mit Faktor 1,6 versehen, Kunst mit 1,3 bis 1,4. Warum?

Norbert Rosenboom: Die Faktoren gehen zurück auf die Selbstbefragung der Unternehmensberatung Mummert und Partner von 1998. Da haben 6600 Lehrkräfte in Nordrhein-Westfalen auf einer Data-Box ihre Arbeitszeit gestoppt. Weil dieser Datensatz tragfähig ist, hat ihn sowohl die erste Lehrerarbeitszeitkommission von 1999 als auch die zweite übernommen. Hinzu kommt, dass die zweite Kommission den Auftrag hatte, mit 13.700 finanzierten Stellen auszukommen. Das Ergebnis ist eine Mischung aus zeitlicher Voluminaberechnung und finanzieller Möglichkeit.

Was heißt 1,3 für die Lehrer? Rosenboom: Dass 60 Minuten Unterricht mit dem Faktor 1,3 versehen werden, in dem Zeit für Vor- und Nachbereitung und Korrekturen bleibt. Nun sagen Kunstlehrer, wie viele andere Fachlehrer auch, damit komme ich nicht aus. Hier gibt es einen fundamentalen Dissenz. Ich als Behördenvertreter verstehe dies als Planungsmodell der Finanzierbarkeit, das sich ausdrückt in zeitlichen Volumen. Und die Kollegen sagen, wenn ihr mir ein Zeitvolumen gebt, dann arbeite ich auch nur diese Zeit.

Frau Pohlendt, der Bund Deutscher Kunsterzieher (BDK) läuft Sturm gegen diesen Faktor?

Beate Pohlendt: Wir verstehen das Modell als eine Beschreibung unseres Arbeitsplatzes, bei dem die Zeiten nicht stimmen. Auch, weil diese NRW-Studie nicht auf Hamburg übertragbar ist. Zwölf bis 15 Minuten für Vor- und Nachbereitung sind viel zu knapp. Man geht von vier Korrekturen im Jahr aus, es sind aber bis zu zwölf Arbeiten, die sie würdigen müssen, sonst fühlen sich die Schüler nicht wahrgenommen. Auch können sie in Kunst keine vorgefertigten Aufgaben einreichen. In diesem sehr aufwendigen Fach geht es nicht nur um die Vermittlung von Wissen, sondern um die Anwendung auf die Person.

Wenn ich zum Beispiel mit einer Klasse, die fürchterlich cool ist, einen Film mache, dann muss ich überlegen, wie kriege ich es zustande, dass diese Kinder merken, was cooles Verhalten ist. Das geschieht nicht, wenn ich nur Farbkreise durchnehme.

Rosenboom: Sie finden keine Fachlehrergruppe, die sagt, der Faktor sei richtig. Alle sagen, sie kommen damit nicht aus. Und im Einzelfall kann mir jeder Kollege sehr verständlich begründen, wie viel mehr Zeit er benötigt. Das gewählte Beispiel, die coole Klasse zur Selbsterkenntnis zu bringen, ist gelungen. Im Faktor jedoch bildet sich nicht das Einzelbeispiel ab, sondern notwendigerweise der Durchschnitt. Die Hamburger Lehrer reagieren in der öffentlichen Darstellung so: Wir haben Minutenvorgaben, jetzt können wir auch nur Minuten arbeiten. Das Planungsmodell ist aber ganz anders gemeint.

Mit Folgen für den Schulalltag. Eine Kunstlehrerin muss statt elf künftig 13 Kurse geben. Das sind 50 Schüler mehr.

Rosenboom: Damit wäre sie immer noch im Durchschnitt der 1770 Stunden Jahresarbeitszeit. Eigentlich müsste die Lehrerschaft jetzt Aufgabenkritik leisten. Das heißt zum Beispiel, welche Form und Zahl von Klassenarbeiten ermöglicht es mir, möglichst dicht an ein finanziertes Zeitmodell ranzukommen? Wir haben in der Behörde eine Arbeitsgruppe, die bis Ende September ermittelt, wie häufig in allen anderen Bundesländern Arbeiten geschrieben werden. Meine These ist: Hamburgs Schüler schreiben sehr viele, was auch zur Folge haben könnte: Man lernt vor allem für die Klassenarbeit.

Also weniger Klassenarbeiten, um das Modell zu realisieren?

Rosenboom: Ich könnte mir vorstellen, dass wir ganz andere Formen der Leistungsmessung entwickeln. Ich habe als Deutschlehrer immer ganze Aufsätze schreiben lassen und nur einmal gemacht, was ich nachträglich richtig finde. Ich habe meine Schüler drei Einleitungen schreiben und selber entscheiden lassen, welche für die Korrektur gilt. Damit habe ich den Korrekturaufwand verringert und den Lernschritt konzentriert.

Pohlendt: Im Kunstunterricht wird genau dies auch gemacht. Die Schüler müssen Produkte erstellen, Mappen zusammenstellen, die dann aber auch gewürdigt und zensiert werden müssen. Das mindert den Aufwand nicht, es erhöht ihn.

Rosenboom: In Wirklichkeit findet ein Großteil dieser Zensierung im Unterricht statt.

Pohlendt: Seriöserweise muss ich die Arbeiten vorher durchsehen und strukturieren, wenn ich sie mit Schülern im Unterricht bewerte.

Der BDK hat 5000 Schüler Lemminge malen lassen. Ihre Vision vom Kunstunterricht?

Pohlendt: Die Aktion hatte mehrere Aspekte. Kann man Standardaufgaben entwerfen? Kann man das Material reduzieren? Und kann man Vergleichbarkeit herstellen, ohne zu berücksichtigen, dass der Einzelne einen eigenen Ansatz hat?

Rosenboom: Die Frage stellte sich hier nicht. Die Aufgabenstellung setzte das Ergebnis voraus.

Pohlendt: Das war ein Fake.

Rosenboom: Ich weiß. Sie geben zu, dass man dies geschickter machen könnte, wenn man wollte. Ich befürchte, wir machen etwas grundsätzlich falsch. Es müssen in Hamburg seit zehn Jahren nur in den Kernfächern Arbeiten geschrieben werden. In allen anderen reichen Tests. Dennoch werden auch dort überwiegend Arbeiten geschrieben.

Pohlendt: In der Oberstufe dürfen sie nicht Klausuren streichen. Die müssen fürs Abitur trainieren. Wenn sie da eine weglassen, wird es problematisch. Gleichzeitig gewähren sie aber nur fünf Stunden für einen Satz Korrekturen. Das ist halbseiden.

Rosenboom: Die Lernentwicklung findet nicht allein in der Oberstufe statt. Wir müssen ab Klasse 5 oder früher darauf gucken, dass ein Schüler vernünftig schreiben und einen reflektierten Text verfassen kann.

Pohlendt: Aber das verringert den Aufwand nicht.

Rosenboom: Wir müssen einfach umdenken. Sie werden heute in Hamburg keinen Deutschaufsatz finden, wo eine ganze Seite durchgestrichen ist. Weil unsere Generation so fürsorglich mit Schülern umgeht, akzeptieren wir alles, was ein Schüler schreibt und hinten gibt es dann einen langen Korrektursermon. Zu meiner Schulzeit waren halbe Seiten richtig durchgestrichen, weil der Lehrer gesagt hat, hier wiederholt es sich.

Pohlendt: Und bei mir stand „recht nett“ und sonst nichts.

Ist Kunst nicht einfach zur Entspannung da, ein leichtes Fach?

„Meine These ist: Hamburgs Schüler lernen vor allem für die Klassenarbeit“: Norbert Rosenboom

Pohlendt: Kunst wirkt gelegentlich entspannend, weil dort weniger rezeptiv und mehr produktiv gearbeitet wird. Das heißt aber nicht, dass Kunst ein Pausenfach ist. Jemand, der in Kunst Abitur macht, hat stark wahrnehmungsorientiert gearbeitet und ist in der Lage, eigene Arbeitsprozesse zu reflektieren.

Rosenboom: Die Leistungsebene zum Fach Deutsch ist absolut gleich. Ob ich ein Gedicht oder ein Bild reflektiere, da habe ich den gleichen Prozess vor mir. Das Entspannende an Kunst ist die andere Arbeitsform. Schüler gehen in den Kunstraum hinein und sind sofort individualisiert.

Pohlendt: Und genau dieses Individualisieren bedeutet zusätzliche Arbeit, die nicht berücksichtigt ist. Das ist in der NRW-Studie nicht richtig erhoben worden.

Rosenboom: Andere Studien kommen zu härteren Faktoren, die spreizen von 1,0 für Sport bis zu 2,5 für Deutsch. Gleichzeitig muss man zugeben, dass es die zufriedene Lehrergruppe nicht gibt. Das liegt nicht an falschen Faktoren, sondern daran, dass es überhaupt welche gibt.

Dänemark hat sein Faktorenmodell wieder zurückgezogen.

Rosenboom: Nein. Dänemark hat die Faktoren verändert. Österreich arbeitet mit einem ähnlichen Modell seit zehn Jahren hervorragend. Da wollen die Lehrer es nicht wieder loswerden. Bayern lässt nur Sportlehrer mehr unterrichten. Wir hatten uns vorgenommen, alles zeitlich zu erfassen und zu bewerten, da muss man in Streit kommen. Im Moment geht es darum, eine Akzeptanz der Lehrer zu schaffen, die den Start ermöglicht.

Pohlendt: Geistige und zwischenmenschliche Tätigkeiten sind ja auch etwas, was sich schlecht abrechnen lässt.

Wie müsste das Modell aussehen, damit Sie es akzeptieren?

Pohlendt: Ich sehe das Dilemma, wir müssen sparen und Qualität steigern. Es gibt aber weitere Faktoren, die bedacht werden sollten. Zum Beispiel, mit wie vielen Menschen, mit wie vielen Lerngruppen man es zu tun hat. Wir müssen die Schüler ja wahrnehmen. Es müsste auch berücksichtigt werden, welche Fächer viel mit Material zu tun haben. Auch die sehr bedeutsamen Gespräche mit Kollegen tauchen im Modell nicht auf.

Rosenboom: Wir haben ganz bewusst die physische und psychische Belastung nicht erfasst, weil wir keine Daten hatten. Das hat etwas mit der Ebene zu tun, wie viele Schüler ein Kollege hat. Wir führen dazu an 25 Schulen eine Studie durch. So etwas könnte man abdecken. Aber ich hätte Sorgen, die Faktoren noch feiner zu machen. Am liebsten würde ich sie näher angleichen. Wir haben jetzt von 1,25 bis 1,9 gespreizt. Wir könnten auch bei 1,4 beginnen und bei 1,7 enden.