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Archiv-Artikel

„Ist es nicht heiß unter dem Tuch?“

Jugendliche stellen Fragen zum Islam. In offenen Diskussionsforen setzen sich Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund, mit oder ohne muslimische Erziehung mit dem Islam in ihrer Alltagswelt auseinander. Eine bundesweite Initiative von „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“

Warum dürften Frauen in Afghanistan unter dem Taliban-Regime nicht Fahrrad fahren?Wie schaffe ich es, mit meinem muslimischen Freund ins Schwimmbad zu gehen, ohne dass wir von den Eltern erwischt werden?Was ist die Scharia?Warum dürfen Frauen im Islam keine Schminke tragen?Steht im Koran, dass Frauen Kopftücher tragen müssen?Hat man Gott falsch verstanden, wenn man den „Heiligen Krieg“ führt oder ausruft?Werden Mädchen im Islam verheiratet?Tragen Mädchen auch im Sportunterricht Kopftuch?Was ist DER Islam? Gibt es DEN Islam?Sind Demokratie und Islam in einem Staat möglich?Ist ein Kreuz an einer Kette oder ein Kopftuch ein Modeaccessoire oder ein religiöses Symbol?Gibt es Homosexualitätim Islam?Durften Frauen in Afghanistan nicht einkaufen gehen?

von SUSANNE LANG

An den Tag, an dem sie ihre Haare unter einem Kopftuch versteckt hat, erinnert sich AishaNur nicht mehr so genau. Das Mädchen runzelt seine blasse, weiße Stirn und überlegt, während die späte Junisonne auf das schwarze Tuch brennt. „So ungefähr vor eineinhalb Monaten war das“, sagt sie dann und blickt mit ihren klaren blauen Augen fest in die Gesichter ihrer Mitschüler, die in einem Kreis auf der Wiese des Jugendhauses sitzen. AishaNur ist Deutsche. AishaNur ist auch Muslimin. Und seit sie vor eineinhalb Monaten zum Islam konvertiert ist und ihren Vornamen geändert hat, beantwortet sie Fragen, wie sie an diesem Vormittag ihre Mitschüler aus der Arbeitsgruppe stellen: „Wieso trägst du freiwillig ein Kopftuch?“ „Ist es nicht heiß unter dem Tuch?“ „Fühlst du dich nicht unterdrückt?“ „Was sagen deine Eltern dazu?“

Der Islam und AishaNur – das war nur eines der Themen, über das 60 Schüler der Berliner Hermann-Hesse-Oberschule vergangenen Montag auf ihrem ungewöhnlichen Projekttag reden wollten. Ungewöhnlich, weil die Form der Diskussion, die im Rahmen des Projekts „Schule ohne Rassimus“ stattfand, völlig frei gehalten war. Ein „Open Space“ sollte sie sein, ein Freiraum für Gedanken, Meinungen und Inhalte. Die Form stammt aus den USA. Wer mit wem und wann in welcher Weise worüber diskutieren möchte, bestimmten die Teilnehmer selbst. Vorgegeben ist nur das übergeordnete Thema. An diesem Montag heißt es „Islam und ich“ und steht in bunt gemalten Buchstaben auf einem sonst noch weißen Flipchart in dem großen Gemeinschaftsraum des Jugendhauses.

AishaNur hebt die Hand, steht von ihrem Stuhl auf und geht zum Chart. „Islam und Medien“, schlägt sie vor und schreibt es auf den großen Papierblock. Wie beeinflussen Medien unser Bild vom Islam – etwas später nach dem Themen-Brainstorming, wird sich zeigen, dass nur drei Schüler darüber reden möchten. Auch das gehört zum Freiraum: kein Interesse haben müssen. Trotzdem haben gegen Mittag alle Schüler ihren Namen unter ein Thema gekritzelt. Und während die einen sich noch schnell einen Becher Saft holen, andere aus der Musikanlage eine Multikulti-Mischung aus Reggae und HipHop dröhnen lassen, suchen sich die Gruppen jeweils einen Platz für ihre Diskussion. Welche Rolle hat die Frau im Islam, was verbietet der Islam, und was erlaubt er? Wie tolerant ist der Islam anderen Kulturen und Religionen gegenüber?

Der Islam und AishaNur steht nicht auf dem Flipchart. Und gerade deshalb ist das Thema der Arbeitsgruppe auf der Wiese ein gutes Besipiel dafür, wie die Jugendlichen ihren Freiraum nutzen. Vom Missbrauch des Islam für politische Interessen über die USA und die Anschläge des 11. September auf das World Trade Center hin zu AishaNurs noch junger islamischer Lebenswelt – „Islam und ich“ setzt sich an diesem Tag aus 60 kleinen Spots, aus 60 privaten Erfahrungen und Meinungen zu der Weltreligion zusammen. Da ist die religiöse, aber nicht streng muslimisch gläubige Canan, die von ihren Bekannten erzählt, die Kopftuch tragen müssen, sich aber diskriminiert fühlen; der indische Mayuran, der auch Probleme hätte mit einem symbolischen Kreuz in seinem Klassenzimmer; die türkischstämmige Sara, die an Gott glaubt und keinen Freund haben will vor der Ehe – was aber nichts mit dem Koran, sondern mit ihren Eltern zu tun habe; oder die deutsche Paulina, die das Kopftuch kritisch sieht, aber mehr Verständnis dafür hat, seit AishaNur ihre Gründe aufgezählt hat.

Dazwischen bleiben viele Fragen unbeantwortet, weil kein Experte zwischen den Arbeitsgruppen auf der Terrasse, der Wiese oder in der Cafeteria sitzt. Aber genau darum geht es: „Unser Ziel ist es nicht, die Schüler zu informieren“, betont Sanem Kleff, die die Aktion „Schule ohne Rassimus“ bundesweit koordiniert. „Sie sollen einen offenen Raum geboten bekommen, in dem sie formulieren können, was sie bewegt.“ Und wenn die Schüler nach dem Open Space neugierig geworden sind auf die Antworten auf die offenen Fragen, dann hat er sein Ziel erreicht: Diskussion und Meinungsbildung anregen; Einblicke verschafft in die religiöse Lebenswelt der Andern.

Und genau deshalb sitzt AishaNur zwischen den Anderen auf der Wiese und beantwortet geduldig all die Fragen. „Meine Eltern waren und sind noch sehr schockiert,“ erzählt die Oberstufenschülerin. Warum, das würde sie auch interessieren, sie weiß es nicht so genau. „Die üblichen Vorurteile“, vermutet AishaNur. Dass sie nun als Frau unterdrückt werde zum Beispiel. „Das stört mich am meisten“, sagt sie mit fester Stimme. „Das Tuch schützt mich vor Blicken fremder Männer“. Die großen Augen einiger Mitschüler sehen das offensichtlich nicht so. Auch das gehört zum Freiraum.