: Serielle Bilder von Milena
Daniel Goldins Tanzabend „Tagelang und Nächtelang“ im Großen Haus in Münster ist eine Hommage an Franz Kafkas Geliebte Milena Jesenská. Die choreographische Sprache ist geprägt durch Affinitäten zum klassischen Tanztheater
Die Bühne ist ein großer Wurf. Auch im Wortsinn. Zwei meterhohe, den ganzen Raum einnehmende Regale, voll mit staubigen Akten stehen da, dazu ein schmales Stück schmutzig-weiße Wand mit einer Uhr, eine Tür, ein Schreibtisch. Nachempfunden der Poststelle in der „Kleinen Festung Theresienstadt“. Wer will, mag in solch hypertropher Bürokratie-Architektur auch eine Anspielung auf Franz Kafka sehen.
Daniel Goldins neuer Tanzabend ist ein Porträt der Kafka-Freundin Milena Jensenskás und entfaltet Szenen zwischen der Bohème Prags und Wiens der 1920er und 1930er Jahre und ihrer letzten Zeit im KZ Ravensbrück. Dabei bilden die – bei aller Wucht – beweglichen Regale mehrfach neue Räume zwischen bedrückender Enge und der Weite der gesamten Bühne. Und immer wieder kommen und gehen die TänzerInnen durch die versteckte Türen.
Goldin und sein Ensemble entgehen zwei möglichen Fallen. „Milena“ wird nicht auf Kafkas Freundin reduziert, sondern sondern verdichtet das Leben einer aufbegehrenden Frau, Publizistin und Journalistin zu einer traumartigen Abfolge szenischer Bilder. Milena Jensenskás war früh Feministin und undogmatische Kommunistin, versteckte als Widerstandskämpferin Juden vor den Nazis, war aber auch nach langer, schwerer Krankheit Morphium süchtig. Die Darstellung ihres Todes in Ravensbrück gerät am Ende ganz ohne Pathos: Milena (Alice Cerrato) rollt auf einem Stuhl an die Rampe, im Schoß das letzte Bild Milena Jesenskás, ein Polizeifoto von 1940.
Die choreographische „Sprache“ ist geprägt durch gewisse Affinitäten zum klassischen Tanztheater, auch oft durch fast serielle Bewegungsmuster. Die TänzerInnen erscheinen so als Gefangene von Konventionen und wechselseitigen Verflechtungen. Die Vergeblichkeiten des Entkommens tragen bei zur alles durchdringenden Melancholie. In „Tagelang und Nächtelang“ – Zitat aus einem Brief Jesenskás an Max Brod über Kafka – aber gelingt die Öffnung dieses Stils hin zu neuen Tanzformen. Zu Musik von Dvorák, Janácek, aber auch Eisler und Weill und zu frühem Klezmer entfalten sich immer wieder Anklänge an zeitgenössische Modetänze, grotesken Stummfilmexpressionismus, Slapstick bis hin zu Chaplins „Moderne Zeiten“ (inklusive dessen Sentimentalitäten). Alles, ohne bloßes Zitat zu sein. Vielmehr entspinnt sich so ein atmosphärisch höchst stimmiges Beziehungsgeflecht zwischen Choreographie und Bühne.
MARCUS TERMEER
03. Juni, 19:30 UhrTheater MünsterKarten: 0251-41467100