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Archiv-Artikel

Die Wahrheit über eine Schweinerei

Was ist Schinken? Eine geräucherte Schweinskeule. Der einzig echte Ammerländer Schinken wird nordwestlich von Oldenburg in einem „working museum“ produziert. Eine umfassende Aufklärung

Von Schlachtern ist kaum Hilfe für das Kulturgut „Ammerländer Schinken“ zu erwarten

Ammerländer Schinken verdankt seine 250 Jahre Geschichte der Schifffahrt: Vor Erfindung der Kühlmaschine wurde auf Große Fahrt Fleisch mitgenommen, das mit Rauch oder Salz behandelt war. Die Seefahrer-Nahrung war keine Delikatesse, erst später entdeckten Räuchereien das anspruchsvolle Bürgertum als Zielgruppe. Diese in der Mitte des 19. Jahrhunderts begründete Tradition pflegt der Ammerländer Metzger Arnd Müller.

Im Gegensatz zu anderen Fleisch verarbeitenden Betrieben fehlen bei ihm die Fliesen an Boden und Wänden – „ich gehe da nicht mit dem Hochdruckreiniger durch.“ Seine Räucherkammer sei schließlich kein OP, wo „der nächste Schinken, bitte“ behandelt wird. Im Gegenteil: Hier kann jede Schweinskeule in Ruhe reifen – was zwölf bis 20 Monate dauert.

Müller ist nicht der Herr im Haus: „Der Schinken ist mein Arbeitgeber und bestimmt den Rhythmus.“ Manchmal muss er nachts den Reifeprozess überprüfen, dann wieder kommt der Schinken 14 Tage ohne ihn aus. Es ginge auch einfacher. Und mit weniger Schwund: In schlechten Jahren arbeiten die Reife-Bakterien intensiver als normal und zerstören bis zu 90 der von Müller eingesalzenen 180 Keulen. Ein guter Jahrgang hingegen bringt 93 Prozent Ausbeute. Zwar verbietet kein Reinheitsgebot den Schinkenhegern und -pflegern, Fleisch in einem Klimaraum mit künstlich erzeugter mediterraner Luft zu trocknen. Müller produziert aber keinen „Luftgetrockneten“, weil der kein Ammerland-Klassiker sei.

Als verkaufsfördernde Maßnahme wird dem Schinken oft eine Überdosis Salz verabreicht. Sie schenkt lebendige Farbe, bedeutet aber geschmacklich den Garaus. Trotzdem reagieren manche Gourmets enttäuscht auf die blasse Optik von Müllers Produkten. Sicher, das Auge isst mit, aber die eigentlichen Genießer sind Gaumen und Zunge.

Mit deren Hilfe erinnern sich Müllers Besucher an Schinken aus ihrer Kindheit. Das war vor mehr als 30 Jahren, als noch kein Turbo-Schwein die Schmeck- und Riechgewohnheiten prägte. Die MuseumsbesucherInnen schnalzen mit der Zunge: „So schmeckt nur Bio-Fleisch.“

Denkste. Die Viehfütterung ist nur zu einem Drittel für den Schinkengeschmack verantwortlich, sagt Müller, wichtiger sei die Rasse. Diese Meinung teilen nicht alle Züchter, die das Museum besichtigen. Müller fragt dann: „Warum habt ihr für euren Eigenbedarf andere Schweine im Stall als für den Verkauf?“ Betretenes Schweigen. Auch von den Schlachtern kann Müller kaum Hilfe bei der Pflege des Kulturguts „Ammerländer Schinken“ erwarten. Die Großeinkäufer der Wurstfabriken beurteilen Rohware nach pH-Wert und der elektrischen Leitfähigkeit des Muskelfleisches, Gewürze und Geschmacksverstärker sorgen schließlich für das immer gleiche Endprodukt. Als Müller Anfang der 90er Schweinskeulen „mit richtig viel Speck“ verlangte, habe man ihm erst einmal minderwertiges Fleisch andrehen wollen. Denn auch viele Fleischer betrachten die Speckschwarte am Schinken als so überflüssig wie Dornen an der Rose. „Sogar erfahrene Hausfrauen haben bei mir zum ersten Mal ein Stück Speck so richtig genossen“ erzählt Müller. Weil „moderne“ Schweine nur mageres Fleisch produzieren sollen, degenerierte das Fett zum „Abfall“.

Müller verarbeitet Landhaus-Schweine, wie sie vor 50 Jahren verbreitet waren. Seine Zukunft plant er mit dem Bentheimer Hausschwein, das zurzeit eine Renaissance als Fleischlieferant für die Edel-Gastronomie erlebt. Erst spät hatte das Ammerland die Massentierhaltung übernommen, mit der gleichen Verspätung kommt nun die Rückbesinnung. Neben dem Fleisch ist die wichtigste Zutat in den Produkten aus Müllers „arbeitendem“ Museum die Zeit. Einfach nur Zeit. Und sein Gespür für den jeweils erreichten Schinken-Reifegrad.

Müller vergleicht die Veredelung von Schweinskeule-Individuen mit dem Entschärfen einer Bombe: „Wenn ich nicht ständig auf Überraschungen gefasst bin, bestraft mich der Schinken.“ Versuche, die Zeit und andere Reifefaktoren nach dem Salzen und Räuchern zu beeinflussen, hat Müller aufgegeben. Seine letzte diesbezügliche Fehlinvestition war 1993 eine Vakuummaschine. Schon nach einer Saison hat er sie abgeschaltet, weil „der Schinken sich in seiner Vielfalt und Feinheit nicht mehr präsentieren konnte.“ Bei den Mitbewerbern des Ammerländer Schinken-Museums müssen die Reife-Bakterien aber immer noch wegen des Luftabschlusses ihre Wert steigernde Arbeit beenden.

Winfried Dulisch