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Archiv-Artikel

Stimmen häufeln auf dem Wahlplakat

Bei Kommunalwahlen in Bayern dürfen Bajuwaren in Bodenhaltung bis zu 80 Stimmen verteilen, sogar an andere Parteien als die CSU

MÜNCHEN taz ■ Um zu verstehen, warum im Freistaat Bayern zumindest auf kommunaler Ebene genau das Wahlrecht gilt, das besser dorthin passt als jedes andere, muss man nur mal mit dem SPD-Spitzenkandidaten übers Land zu fahren. Die Tour durch Dörfer wie Kleinstädte kommentierten die Pressebetreuer gern in einem Anflug von Galgenhumor: „Hier hat die CSU letztes Mal ja nur 88 Prozent geholt.“ Denn die CSU ist nicht nur irgendeine Partei im politischen Spektrum, sondern sie deckt diverse Positionen von SPD, FDP und – seltener – den Grünen gleich mit ab. Den rechten Rand hält sie ohnehin besetzt.

Insofern finden gerade auf kommunaler, aber auch auf landespolitischer Ebene die entscheidenden politischen Auseinandersetzungen nicht zwischen Parteien, sondern fast nur innerhalb der CSU statt – dort wird dann aber oft mit einer Schärfe und Hinterlistigkeit gekämpft, die keinem schweren Gefecht zwischen unterschiedlichen Parteien nachsteht. Genau deshalb ist es unerlässlich, dass wenigstens das kommunale Wahlrecht den WählerInnen verschiedene Möglichkeiten beim Abstimmen einräumt.

Statt eine Parteiliste insgesamt abzuhaken, ist es etwa möglich, seine Stimmen zu kumulieren, was der Bayer allerdings nur als „Häufeln“ kennt: Man kann einem oder mehreren Kandidaten bis zu drei Stimmen geben. Man verfügt über so viele Stimmen, wie es Sitze im Gemeinde- oder Stadtrat gibt: In kleinen Orten bis 1.000 Einwohnern sind das acht, in München 80. Das „Häufeln“ ist ein hervorragendes Instrument, um verschiedene Personen und politische Strömungen zu begünstigen – und andere abzustrafen, denn es ist auch möglich, Kandidaten von der Liste zu streichen.

Auf den ersten Blick wirkt das verwirrend, allerdings nur, wenn man sich nicht das weithin übliche Abstimmungsverhalten bei bayerischen Kommunalwahlen vor Augen führt. Normalerweise wird dort das Kreuz bei einer bestimmten Partei gesetzt, also im Regelfall der CSU – und dann beginnt man, innerhalb der Liste nach Herzenslust anzukreuzen und zu streichen. Wer es noch etwas ausgefeilter mag, nutzt auch die Möglichkeit des Panaschierens, sprich, seine Stimmen auf verschiedene Listen zu verteilen.

Auch diese Option wirkt wie maßgeschneidert für bayerische Verhältnisse: Wenn sich politische Streitigkeiten partout nicht mehr innerhalb der CSU austragen lassen, gründen zumeist ein paar Christsoziale eine „Freie Wählergruppe“. Weil die Übergänge zwischen beiden Vereinigungen fließend sind, wirkt es hilfreich, seine persönlichen Vorlieben über Parteigrenzen hinaus verteilen zu können.

Das einzige, was bayerische Wählerinnen und Wähler nie außer Acht lassen dürfen, ist die Anzahl der Kreuze, die sie auf dem nicht gerade kleinen Wahlbogen machen. Gibt man mehr Stimmen ab, als einem zustehen, wandert der Zettel in die Ablage. Angesichts von etwa dreieinhalb Prozent ungültiger Stimmen bei den Kommunalwahlen 2002 scheint die vergleichsweise komplizierte Methode allerdings nur wenige zu überfordern.

Der kluge Wähler lässt sich, insbesondere wenn er in München wohnt, sein DIN A1-Abstimmungsplakat ohnehin per Post zusenden, um dann auf dem Fußboden der Wohnung über die richtige Verteilung der Stimmen zu sinnieren, statt im Wahllokal womöglich unter Zeitdruck in Panik zu geraten – und vor dem Einwurf in die Urne mit Zettel-Falt-Techniken zu kämpfen, die jeden japanischen Origami-Künstler überfordern würden.

JÖRG SCHALLENBERG