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Archiv-Artikel

Den Häftling ausfliegen und dann freilassen

Bayerische Behörden schieben einen Sowjetdeserteur nach Moskau ab – heimlich, damit die Miliz ihn nicht verhaftet

MOSKAU taz ■ Im Januar 1991 tauchte Dimitri Olenin (heute 31) als Soldat der Sowjetarmee durch die Neiße von Polen nach Deutschland. Er sollte nach Armenien in den Krieg geschickt werden. Davor schwamm er davon. Was er nicht wusste: dass er nun zwölf Jahre lang ohne die Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen, in bayerischen Behelfsunterkünften dahinvegetieren würde, in ständiger Ungewissheit über sein Schicksal.

Heute sitzt er auf einer Bank am Roten Platz. Nur die nicht abreißende Kette von Zigaretten in seinem Mundwinkel verraten seine Nervosität. Am 5. Mai dieses Jahres wurde Dimitri aus seiner letzten Abschiebehaft in München abgeholt – und nach Moskau verbracht. Ein einzigartiger Fall: Vor ihm ist noch kein einziger Deserteur der ehemaligen Sowjetarmee wurde aus einer westlichen Demokratie abgeschoben worden. Ein bayerisches Amtsgericht erklärte zwei Tage später den Haftbefehl gegen Olenin für rechtswidrig.

„Die Sicherheitsbeamten brachten mir meine Sachen“, erzählt er in fließendem Deutsch: „Dann haben sie mich zum Flughafen gefahren. Die ganze Zeit über kein Wort von Abschiebung. Am Moskauer Flughafen gab man mir mein Dokument – und fertig!“ Die russische Seite wurde nicht benachrichtigt. Dimitri, mit 20 Euro in der Tasche, war für Moskau etwa so fit wie ein Wellensittich, den man fliegen lässt. Olenin sieht in dem Vorgehen ein Eingeständnis der deutschen Behörden: „Die wussten, ich wäre verhaftet worden, falls sie die russische Miliz benachrichtigt hätten.“

Als einfacher Wehrdienstleistender hatte Olenin in dem um Berg-Karabach tobenden Konflikt zwischen Armenien und Aserbeidschan eingesetzt werden sollen. Die russischen „Friedenstruppen“ erpressten dort in Wahrheit nur Schutzgelder von den Einheimischen. Seine Flucht bewahrte ihn davor, zum Verbrecher zu werden.

Valentina Dmitrijewna Melnikowa, Vorsitzende der „Vereinigung der Soldatenmütter Russlands“, findet besonders verwunderlich, dass ihr gerade Deutschland den ersten Fall dieser Art beschert hat. Ein Abkommen aus dem Jahre 1996 gewährt allen Deserteuren der Sowjetarmee in Deutschland eine Aufenthaltsgenehmigung. Lächerlich findet sie auch, dass die Regierung in Bayern dem Mann vorwirft, er sei ohne Papiere geflohen: „Wo doch jeder weiß, dass alle persönlichen Dokumente sowjetischer Soldaten in den Stäben aufbewahrt und später oft von den Armeeoberen an Banditen verkauft worden sind, damit diese damit Firmen gründeten.“

Das russische Konsulat in München hatte Dimitri Olenin eine Bescheinigung über seine ehemalige Sowjetbürgerschaft ausgestellt. Der Passbeamte bei der Einreise in Moskau war damit zufrieden. Das russische Innenministerium wollte dies später einfach nicht glauben. Olenin selbst betrachtet seine Abschiebung als Rache des für ihn zuständigen Beamten von der Regierung Mittelfranken an der NGO „Karawane“ in Nürnberg, die sich für ihn und andere Abschiebehäftlinge eingesetzt hat. Er wartet nun auf das Ende seines Verfahrens vor der russischen Militärstaatsanwaltschaft und auf etwas, womit er in seinem Leben kaum mehr gerechnet hatte: Er wird endlich einen Pass bekommen – einen russischen. Damit will er nun in Moskau seine Freundin aus Bayern heiraten.

Auf die Frage, ob er in der gleichen Situation wieder desertieren würde, wenn ihn danach die gleichen Diskriminierungen erwarteten, antwortet der Mann: „Klar, das war doch alles immer noch besser, als im Krieg zu sterben!“ BARBARA KERNECK