: Zerstörte Oberflächen
Ein Räderwerk, das beständig ins Nichts läuft: Der Komponist Beat Furrer und Christoph Marthaler entfalten in Zürich an einem Stoff von Marguerite Duras ihre ganze Kunst der Demontage
von BJÖRN GOTTSTEIN
Ordentlich missraten ist Annes Versuch, ihrem kleinkarierten Leben zu entkommen: Sie hatte sich mit ihrem Geliebten getroffen, was wie immer unter ins Nichts laufenden Fragen verebbte. Jetzt torkelt Anne Desbaresdes, die Gattin eines Fabrikanten, angeschlagen über die weite Bühne der Oper in Zürich. Wenn sie sich schließlich auf einer Parkbank niederlässt, um ihren Rausch auszuschlafen, beginnen zwei Doppelgängerinnen – alle drei tragen hellen Trenchcoat und platinblondes Haar –, ihren Zustand zu reflektieren. Der Sopran wühlt tief in der Psyche der Protagonistin und bedient sich dabei eines todtraurigen Liebesgedichts von Juan de la Cruz. Die Flötistin fasst Annes Verunsicherung in Musik, völlig unvermittelt und ohne die vermeintliche Fassbarkeit der Sprache, als musikalisches Substrat.
Die Szene bringt Beat Furrers Musiktheater auf den Punkt: die Sprache als so eindeutige wie missverständliche Oberfläche, der Gesang als psychologisierendes Moment unterhalb dieser Oberfläche, die Musik als von den Zeichenkonventionen befreite und gerade deshalb besonders wahrhaftige Essenz der Situation.
Für die Musik greift Furrer, Jahrgang 1954, ganz bestimmte Gesten auf: das Ohr auf den Schreibtisch legen. Den Veränderungen des kreiselnden Rauschklangs nachhorchen. Oder: einen Ton auf der Geige spielen. Den Bogen langsam zum Steg führen. Den Ton zum Geräuschklang modulieren. Das sind musikalische Gesten, die einer alltäglichen Handbewegung gleichen. Für sich genommen erzählen diese Gesten nichts. Wo sie aber in einen szenisch-dramatischen Zusammenhang gesetzt werden, entfalten sie ihr narratives Potenzial.
Seine jüngste Oper, „Invocation“, die am Sonntag unter der Regie von Christoph Marthaler in Zürich uraufgeführt wurde, lehnt sich an den Roman „Moderato cantabile“ von Marguerite Duras an. Da sowohl Furrer als auch Marthaler derzeit zu den wichtigsten Vertretern ihres Fachs gehören, wurden an diese Premiere hohe Erwartungen geknüpft. Die eigentliche Geschichte wird freilich, es gehört zum guten Ton des zeitgenössischen Musiktheaters, nicht erzählt. Stattdessen wird die Situation einer desorientierten Frau, die als Zeugin eines Mordes aus dem Gleichgewicht gerät, aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Furrer hat das Libretto mit Texten von Cesare Pavese, Juan de la Cruz und Ovid angereichert.
Man hat es also mit einem Bilderbogen zu tun. Die Diskontinuität der Narrative wird noch dadurch unterstrichen, dass Furrer einzelne, in sich geschlossene Nummern komponiert: gesprochene Dialoge, Stücke für Sopran und Flöte, Szenen für Chor und Streichquartett. Nur das vorletzte Bild, die komponierte Katastrophe, die zur endgültigen Isolation der Hauptfigur führt, bringt die vielen Fäden der Oper zusammen: der Chor in seiner kalten Maske, die Protagonistin in ihrem haltlosen Ekel, das Ensemble mit seinem stotternden Furioso.
Nun können die vielen weltliterarischen Anleihen den melodramatischen Zug der Vorlage nicht verwischen. Die Geschichte einer Frau, die ihr „moderato“ geführtes Leben als hohl entlarvt, wird durch den Verweis auf den Dualismus apollinisch–dionysisch nicht zur Tragödie. Die schwermütige Sentimentalität der Szenen lähmt den Ausdruck. Diesem Dilemma muss sich letztlich auch Marthalers Regie beugen.
Er kann die bürgerliche Tristesse, die sparsam mit den Pastellfarben der Fünfzigerjahre angedeutet wird, nur durch wenige, allerdings großartig gesetzte Pointen durchbrechen: im gruselig-seligen Lächeln erstarrter Gesellschaftsbilder zum Beispiel. Im theatralisch aufgeladenen Gebaren des Chors, der ständig mit den ihn normierenden Stimmgabeln fuchtelt. Oder in einer Kostümfacette: Die Musiker spielen in Kellnerkluft samt Schürze, und sie spielen sich damit an die kulinarische Rolle, die der Musik bis ins 19. Jahrhundert hinein zugewiesen wurde.
Die Oper gewährt Marthaler nicht die Freiheiten, die er sich als Theaterregisseur nehmen kann. Eine Partitur ist ein Korsett: Sie legt den Regisseur auf Klang und zeitliche Gestaltung fest. Trotzdem ist Marthaler der üblichen Musiktheaterregie meilenweit voraus. Er lenkt die Figuren und den Blick des Publikums mit weicher Eleganz und verzichtet auf die zähweilige und bedeutungssüchtige Robert-Wilson-Behäbigkeit, an die man sich beim zeitgenössischen Musiktheater hat gewöhnen müssen.
Furrer und Marthaler ergänzen sich in ihrem ersten gemeinsamen Projekt also nicht schlecht. Die Begründung, warum sie gerade diesen Stoff gewählt haben, bleiben sie allerdings schuldig. Das ist Beat Furrer schwerer anzulasten als Christoph Marthaler, der über das Stück als Regisseur ja nur in zweiter Instanz waltet.
Trotzdem hat man die Reise nach Zürich nicht bereut. Und zwar einfach, weil Furrer zu den größten Komponisten der Gegenwart gehört. Der dichte, von Stammeln und Zischen durchwobene Chorklang, das flüchtig flirrende Ensemble mit seinem beständig ins Nichts laufenden figurativen Räderwerk, die gigantischen Flötenpassagen, die per Live-Elektronik räumlich aufgefächert werden, und die Sopranpartie, die ihren Gesang stets aus zerstörten Sprachgesten entwickelt und zu Gesangsausbrüchen führt – das sind große Momente, hinter denen die zeitgenössische Musik viel zu oft zurückbleibt.