: „Mit dem Fortschritt persönlich reden“
Von einem Staudammbau in der brasilianischen Provinz erzählt der Spielfilm „Geschichten aus Javé“. Ein Gespräch mit der Regisseurin Eliane Caffé über Lautmalereien und den Übergang von mündlicher zu filmischer Überlieferung
taz: Frau Caffé, wie kamen Sie dazu, einen Film über den Ort Javé zu drehen?
Eliane Caffé: Wir wollten nachzeichnen, wie die orale Kultur in eine Schriftkultur übergeht. Als wir am Drehbuch saßen, stellte sich die Frage, was ein Dorf dazu bringen könnte, seine Geschichte aufzuschreiben, obwohl eine orale Erzähltradition vorherrscht. Wir suchten nach einem plausiblen Grund. Ein Staudammbau wäre ein so heftiger Schicksalsschlag, dass er die Bewohner dazu bringen könnte. Denn nur mit einer geschriebenen, wissenschaftlich belegten Geschichte könnte das Dorf unter Denkmalschutz gestellt werden. Das böte die Möglichkeit, das Dorf zu retten.
Wie kann denn ein Film Geschichte schreiben, die in den Köpfen der Menschen lebt?
In der oralen Erzähltradition leben viele Versionen, die nicht in einen einzigen Text passen. Der Film ist eine Hommage an die Geschichtenerzähler, an ihre Kunst, wie sie Wort, Metapher, Lautmalerei nutzen, an ihre Art, bildhaft zu dramatisieren. Die Kamera wird dabei zu einer Art Zuhörer.
Auf seiner Suche nach der „wahren“ Version der Gründungsgeschichte hört der Stadtschreiber Antonio Biá viele Versionen an, die er nicht niederschreibt, weil sie einander widersprechen. Dennoch findet jede dieser Versionen Eingang in den Film – als stilistisch abgegrenzter Film im Film. Wofür steht die Konkurrenz der Bilder?
Bei einer Auseinandersetzung um die richtige Version konkurrieren immer Weltsichten oder Bilder miteinander. Das kann einen Kampf um Macht oder um Ideologie bedeuten: Zum Beispiel erzählt eine Figur, Indalécio da Rocha, ihre Version vom großen Indalécio, eine andere Figur, Mariazina, widerspricht: „Okay, alle sprechen von Indalécio als dem Gründer Javés, die eigentliche Heldin der Geschichte war jedoch eine Frau.“ Die schwarze Bevölkerung hat wieder eine andere Version.
Was hat es mit der digitalen Kamera auf sich?
Die digitale Kamera stellt neben der Filmerzählung und den verschiedenen gefilmten Gründungsversionen Javés eine dritte Form des Erzählens dar. Die digitale Kamera ist moderner als der Versuch von Antonio Biá, die Geschichte mit dem Bleistift niederzuschreiben. Die digitale Kamera gehört in die Jetztzeit, sie ist ein modernes Werkzeug. Die Ingenieure treffen im Dorf ein, um den Staudammbau vorzubereiten. Einer interviewt die Dorfbewohner, wobei er sich keine handschriftlichen Notizen macht, sondern die Kommentare direkt mit der Digitalkamera festhält. Er filtert die Bilder nicht, sondern reiht seine Gespräche mit den Dorfbewohnern aneinander. Diese äußern ihre Wut, aber auch ihre Ohnmacht vor der Kamera, verhalten sich so, als könnten sie mit dem Fortschritt persönlich reden.
Wird der Protest der Bewohner erst durch die digitale Kamera spürbar?
Als die Dorfbewohner anfangen, Antonio Biá ihre Version der Geschichte zu erzählen, scheinen sie sich zunächst mit ihren Geschichten zu zerstreuen. Der drohende Staudammbau tritt in den Hintergrund. Erst als die Ingenieure ihren Fuß ins Dorf setzen, denkt man wieder daran, das Buch zu verfassen, das die Überflutung verhindern sollte.
Könnte das Buch das denn überhaupt?
Antonio Biá sagt: „Glaubt ihr wirklich, dass die Ingenieure den Staudamm nicht bauen werden, wegen einer Bande von Halbanalphabeten?“ Er selbst antwortet: „Das werden sie nicht tun. Das ist ein Fakt, das ist wissenschaftlich. Der Fortschritt macht nicht vor einer Bande von Halbanalphabeten halt, wie wir es sind.“
Dann wäre sein Schreiben nutzlos?
Als eine Figur zu Antonio Biá sagt: „Für dich mag Javé nicht viel wert sein, aber ohne Javé ist Antonio Biá noch weniger wert“, versteht Biá erst später, dass er ohne Javé tatsächlich ein Niemand ist. In diesem Moment der Tragödie weint er.
Wie wurden die Schauspieler für den Film ausgewählt, und wie war die Arbeit mit ihnen?
Wir haben drei Reisen nach Bahia unternommen, nach Gameleira da Lapa. Wir haben dort einige Darsteller aus der Bevölkerung gecastet. Das Zusammenspiel der Berufsschauspieler mit den Laien war wichtig. José Dumont – er spielt Biá – hat viel erfunden: ein Inventar von Schimpfwörtern, um sein Wortduell mit Dona Maria zu führen, deren Talent er sofort erkannt hat. Dieser Film braucht Raum für die Improvisation aller Beteiligten. INTERVIEW: UTE HERMANNS