Geschichten vom verheimlichten Leben

Ein Lob dem Minimalismus: „Ten“, der neue Film von Abbas Kiarostami, spielt fast ausschließlich im Innenraum eines Autos. In den zehn Sequenzen gelingt dem iranischen Regisseur eine überzeugende Mischung aus avantgardistischer Komposition, sozialem Dokument und großem Schauspielerkino

von CLAUDIA LENSSEN

Die Zahl Zehn gibt einen denkbar abstrakten, formelhaften Titel her. Zehn Autofahrten durch Teheran, zehn Sequenzen in sturen festen Einstellungen, durch Schwarzfilm und strikte Durchnummerierung als Serie ausgewiesen – das erinnert an die Codes des guten alten Experimentalfilms oder an den frühen Godard. Aber die minimalistische Form von Abbas Kiarostamis’ „Ten“ hat nichts selbstverliebt Cineastisches an sich, sondern schafft ein völlig neues Ausdrucksmittel, etwas zwischen avantgardistischer Komposition, sozialem Dokument und der erzählerischen Attraktion eines guten Schauspielerfilms.

Eine Frau kurvt in ihrem Auto durch die iranische Hauptstadt. Erzählt wird ausschließlich, was sich zwischen ihr und den Personen, die zu ihr ins Auto steigen, entwickelt. Die Frau (Mania Akbari) hat keinen Namen, ebenso wenig die Frauen, die sie mitnimmt. Es ist heiß, die Straßen sind überfüllt, man steht im stockenden Verkehr oder muss um einen Parkplatz kämpfen. Der Stress, den die technische Moderne in die Körper einprägt, überträgt sich durch den starren Blick der Kamera und den Originalsound unmittelbar.

Kiarostami konzentriert sich auf den Innenraum, die Fahrerkabine des Autos, lässt nur in wenigen Episoden einen Blick in die Tiefe zu, in die Außenwelt der Straße. Kein Schuss-Gegenschuss-Verfahren bindet die Fahrerin und ihre Begleitung im Gespräch optisch aneinander. Man sieht in jeder Episode nur eine Person, folgt mit den Augen jedem Detail, wenn sie zuhört, abwartet, reagiert, wenn sie sich müde, in sich zurückgezogen oder gereizt zeigt und von den Fahrbewegungen durchgeschüttelt wird. Was das sinnliche Ereignis Autofahren ist, hat man selten so enervierend direkt auf der Leinwand gesehen.

In diesem atmosphärisch dichten Innenraum implodiert eine Familiengeschichte. Das einzige männliche Wesen, das in der Frauenwelt der zehn Episoden auftritt, ist der elfjährige Sohn der Fahrerin. Amin (Amin Maher) – nur er trägt einen Namen – ist der Gegenspieler seiner Mutter, ein Vatersohn, der darunter leidet, dass die alten Verhältnisse ins Wanken kommen.

Amin steigt zu der Mutter ins Auto, soll ins Schwimmbad gefahren werden oder die vom Scheidungsgericht angesetzte Besuchszeit mit ihr verbringen – weshalb er lieber gleich zur Großmutter will. Das enge Zusammensein im Auto ist ihm zuwider, er kennt die üblichen Sätze seiner Mutter, sein Trotz ist eine dicke Mauer. Die Konflikte dieses fatalen Paares sind unüberbrückbar, und ihre Gespräche steigern sich mechanisch zu messerscharfen, traurig-komischen Redeschlachten.

Was Mutter und Sohn einander zum Vorwurf machen, worin sie in der intimen Erzählstruktur von „Ten“ exemplarische Zerreißproben um Geschlechterverhältnisse der iranischen Gesellschaft auf den Punkt bringen, das schrieb ihnen Abbas Kiarostami ins Drehbuch. Aber die Rolle des Regisseurs beschränkte sich darauf, eine Versuchsanordnung zu entwerfen. Mania Akbari und vor allem Amin Maher stürzen sich mit heftiger Unversöhnlichkeit in ihre Streiterei. So intensiv sah und hörte man sich selten in die Kämpfe um die Deutungshoheit einer Trennungsgeschichte ein. Der authentische Gestus dieser Szenen hebt das Spiel weit über virtuose Schauspielerei hinaus, die Frau und der Junge wirken wie zwei heimlich belauschte Dokumentarfilmprotagonisten.

„Ten“ erweitert die Perspektive auf andere Frauenleben. Da ist die Schwester der Fahrerin, die unter ihrem Schador schwitzt und resigniert von ihrer deprimierenden Ehe erzählt. Da ist der sanfte Transvestit, der als Prostitutierte arbeitet. Da sind andere, die die Fahrerin mitnimmt und mit denen sie Gespräche anknüpft – Lebensgeschichten en miniature vom verheimlichten Gefühlsleben der Frauen im Iran.

Mag sein, dass der emanzipatorische Grundton und die Ähnlichkeit der Beziehungsleiden mit den typisch westlichen dem Film zu seiner großen Resonanz in Europa verholfen hat. Abbas Kiarostami, der seit 1970 Dokumentar- und Spielfilme dreht, ist ein Star des europäischen Arthouse-Kinos und arbeitet bevorzugt mit französischen Koproduzenten. In seinen letzten Filmen „Der Wind wird uns tragen“ und „Der Geschmack der Kirsche“ faszinierte er mit eher spirituellen Themen. „Ten“ macht es einem dagegen schwer, exotische Bildergeschichten einzusaugen. Die Fremde hat weniger Aura. Sie rückt vibrierend nah.

„Ten“. Regie: Abbas Kiarostami. Mit Mania Akbari, Amin Maher u. a. Frankreich/Iran 2002, 94 Min.