: Nützliche Lügenvon IGNACIO RAMONET
EIN jeder kennt die Geschichte des Diebes, der „Haltet den Dieb!“ ruft. Was meinen Sie, welchen Titel George Bush der berühmten Anklagerede gegen Saddam Hussein gab, die er am 12. September 2002 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen hielt? „Ein Jahrzehnt der Lügen und der Widersetzlichkeit.“ Und was brachte er darin vor, angeblich auf „Beweise“ gestützt? Lauter Lügen. Der Irak, so behauptete er allen Ernstes, unterhalte enge Beziehungen zum Terrornetzwerk al-Qaida und bedrohe die Sicherheit der Vereinigten Staaten, weil er „Massenvernichtungswaffen“ besitze – ein Ausdruck, der Angst machen soll und von Bushs PR-Beratern gern benutzt worden war.
Drei Monate nach dem Sieg der US-Streitkräfte und ihrer britischen Hilfstruppen im Irak wissen wir, dass diese Behauptungen, deren Stichhaltigkeit wir schon früher angezweifelt hatten, falsch waren. Immer deutlicher zeigt sich, dass die US-Regierung die Informationen über die Massenvernichtungswaffen manipuliert hat. Die 1 400 Inspekteure der von General Dayton geleiteten Iraq Survey Group haben bis heute nicht einmal den Zipfel eines Beweises gefunden. Und wie langsam klar wird, hatte Bush schon damals, als er die Behauptungen aufstellte, von seinen Geheimdiensten Berichte erhalten, aus denen hervorging, dass all diese Beschuldigungen falsch waren, wie man der International Herald Tribune vom 14. Juni 2003 entnehmen kann. Jane Harman, kalifornische Abgeordnete der Demokraten im Repräsentantenhaus, spricht vom größten Täuschungsmanöver aller Zeiten. []Zum ersten Mal in ihrer Geschichte fragen die Vereinigten Staaten nach den wahren Gründen eines Krieges, der bereits beendet ist.
Eine zentrale Rolle bei dieser gewaltigen Manipulation spielte das Office of Special Plans. Wie Seymour M. Hersh am 6. Mai 2003 im New Yorker aufgedeckt hat,(1) war diese geheime Abteilung nach dem 11. September 2001 von Paul Wolfowitz, dem zweiten Mann im Pentagon, geschaffen worden. Unter der Leitung des überzeugten „Falken“ Abram Shulsky sollte diese Abteilung die Berichte der verschiedenen Geheimdienste (CIA, DIA, NSA) sammeln, auswerten und die Ergebnisse der Regierung vorlegen. Das Office of Special Plans verließ sich ganz auf die Berichte von Exilirakern, die dem (vom Pentagon finanzierten) Irakischen Nationalkongress und seinem zwielichtigen Präsidenten Ahmed Tschalabi nahe standen, und soll die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen wie auch die Verbindungen zwischen Saddam Hussein und al-Qaida eigens übertrieben haben.
Empört über diese Manipulationen, erklärte am 1. Mai eine unter der Bezeichnung Veteran Intelligence Professionals for Sanity auftretende Gruppe anonymer ehemaliger Mitarbeiter der CIA und des Außenministeriums in einer an Präsident Bush gerichteten Denkschrift, auch in der Vergangenheit seien schon Informationen „aus politischen Gründen gefälscht worden, aber noch nie so systematisch, um unsere gewählten Abgeordneten zu täuschen, damit sie einem Krieg zustimmen“.(2)
SELBST Colin Powell wurde manipuliert. Seither steht seine politische Zukunft in Frage. Es heißt, er habe sich in Bezug auf die Verbreitung höchst fragwürdiger Informationen dem Druck des Weißen Hauses und des Pentagons widersetzt. Vor seiner berühmten Rede am 5. Februar 2003 im Weltsicherheitsrat las Powell den Entwurf, den Lewis Libby, Stabschef des Vizepräsidenten Richard Cheney, verfasst hatte. Er enthielt derart zweifelhafte Informationen, dass Powell – laut International Herald Tribune vom 5. Juni 2003 einen Wutanfall bekam, die Blätter in die Luft warf und erklärte: „Das werde ich nicht vortragen. Das ist Sch …“. Am Ende verlangte der Außenminister, dass CIA-Chef George Tenet am 5. Februar gut sichtbar hinter ihm saß und damit seinen Teil der Verantwortung für das Gesagte übernahm. In einem am 30. Mai in der Zeitschrift Vanity Fair veröffentlichten Interview gab Wolfowitz die Staatslüge zu. Er erklärte, man habe den Beschluss, die Bedrohung durch die Massenvernichtungswaffen zur Begründung des Präventivschlags gegen den Irak heranzuziehen, „aus bürokratischen Gründen“ gefasst. „Wir haben uns auf einen Punkt, nämlich die Massenvernichtungswaffen, geeinigt, weil dies das einzige Argument war, dem alle zustimmen konnten.“(3)
Der Präsident der Vereinigten Staaten hat also gelogen. Auf der verzweifelten Suche nach einem Casus Belli, mit dem er die Vereinten Nationen umgehen und ein paar Verbündete (Großbritannien, Spanien) für sein Eroberungsprojekt finden konnte, zögerte Bush nicht, eine der größten Staatslügen der Geschichte zu fabrizieren.
Und damit stand er nicht allein. Vor dem Unterhaus in London erklärte sein Verbündeter, der britische Premierminister Blair, am 24. September 2002: „Der Irak besitzt chemische und biologische Waffen. […] Seine Raketen sind binnen 45 Minuten einsatzbereit.“ Vor dem Weltsicherheitsrat erklärte Powell am 5. Februar 2003: „Saddam Hussein hat Forschungen an Dutzenden biologischen Erregern betreiben lassen, die Krankheiten wie Milzbrand, Pest, Typhus, Cholera, Pocken und Gelbfieber auslösen können.“ Und im März 2003, kurz vor Ausbruch des Kriegs, erklärte Vizepräsident Cheney laut Time vom 1. Juni 2003: „Wir glauben, dass Saddam Hussein tatsächlich wieder Nuklearwaffen hergestellt hat.“ In einer Ansprache vor Journalisten am 8. Februar 2003 ging Präsident Bush nach einem Treffen mit Powell so weit, folgende Einzelheiten bekannt zu geben: „Der Irak hat al-Qaida Sprengstoffexperten und Fachleute für die Fälschung von Ausweispapieren zur Verfügung gestellt. Er hat al-Qaida im Gebrauch chemischer und biologischer Waffen unterwiesen. Ende der 1990er-Jahre hielt sich mehrfach ein Al-Qaida-Agent im Irak auf, um Bagdad bei der Beschaffung von Giften und Gasen zu helfen.“
All diese Anschuldigungen wurden von kriegstreiberischen US-Medien wiedergekäut, sowohl von den großen Fernsehgesellschaften Fox News, CNN und MSCN als auch von der Radiokette Clear Channel (mit 1 225 Radiostationen in den USA) und selbst von angesehenen Tageszeitungen wie Washington Post und Wall Street Journal. In der ganzen Welt bildeten die erlogenen Behauptungen das Hauptargument für alle Kriegsbefürworter. In Frankreich zum Beispiel wurden sie von bekannten Inellektuellen(4) übernommen.
Dasselbe gilt für Bushs Verbündete. Der eifrigste unter ihnen, der spanische Ministerpräsident Aznar, erklärte am 5. Februar 2003 vor dem spanischen Parlament: „Wir alle wissen, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitzt. […] Wir wissen auch, dass er über chemische Waffen verfügt.“(5)Einige Tage zuvor hatte Aznar eine Unterstützungserklärung für die Vereinigten Staaten verfasst, den „Brief der acht“, den unter anderem Tony Blair, Silvio Berlusconi und Václav Havel unterzeichnet haben. Darin behaupten sie, „das irakische Regime und seine Massenvernichtungswaffen sind eine Bedrohung für die Sicherheit der ganzen Welt“.
Um einen Präventivkrieg zu rechtfertigen, den weder die Vereinten Nationen noch die Weltöffentlichkeit wollten, verbreitete also ein von der doktrinären Sekte um Bush gesteuerter Propaganda- und Täuschungsapparat sechs Monate lang staatlich verordnete Lügen – und dies derart unverfroren, wie man es gewöhnlich nur von den verabscheuungswürdigsten Regimen dieses Jahrhunderts kennt.
Das Lügen aus Gründen der Staatsräson hat in der Geschichte der USA Tradition. Zu den finstersten Beispielen gehört die Zerstörung des amerikanischen Schlachtschiffs „Maine“ in der Bucht von Havanna im Jahr 1898, die als Vorwand für die Kriegserklärung an Spanien und die Annexion Kubas, Puerto Ricos, der Philippinen und der Insel Guam diente.
Am Abend des 15. Februar 1898, gegen 21.40 Uhr, kam es auf der „Maine“ zu einer heftigen Explosion. Das Schiff sank, und 260 Seeleute verloren ihr Leben. Sogleich beschuldigte die Presse in den Vereinigten Staaten die Spanier, unter dem Rumpf des Schiffs eine Mine angebracht zu haben; man bezeichnete die Spanier als Barbaren, bezichtigte sie, „Todeslager“ zu unterhalten, und sogar der Menschenfresserei.
Zwei Pressezaren überboten sich damals mit Sensationsmeldungen: Joseph Pulitzer von der World und William Randolph Hearst vom New York Journal. Die Kampagne fand Unterstützung bei einigen amerikanischen Geschäftsleuten, die große Investitionen in Kuba getätigt hatten und davon träumten, die Spanier von dort zu vertreiben. Doch die Öffentlichkeit zeigte wenig Interesse. Die Journalisten ebenfalls nicht. Der vom New York Journal nach Havanna entsandte Zeichner Frederick Remington an seinen Chef in New York: „Hier gibt es keinen Krieg, ich bitte um Rückbeorderung.“ Hearst telegrafierte ihm: „Bleiben Sie! Liefern Sie mir die Zeichnungen, ich liefere Ihnen den Krieg.“ Hearst startete eine massive Kampagne, die Orson Welles in dem Film Citizen Cane (1941) nachgespielt hat.
Mehrere Wochen lang widmete Hearst dem Vorfall in seinen Zeitungen Tag für Tag mehrere Seiten, forderte Vergeltung und wiederholte unablässig: „Remember the Maine! To Hell with Spain“. Alle übrigen Zeitungen folgten seinem Beispiel. Die Auflage des New York Journal stieg zunächst von 30 000 auf 400 000 Exemplare und lag in der Folge regelmäßig über einer Million. Die Stimmung im Lande stieg bis zum Fieber. Unter allseitigem Druck erklärte Präsident William McKinley schließlich am 25. April 1898 Spanien den Krieg. Dreizehn Jahre später, 1911, gelangte eine Untersuchungskommission zu dem Schluss, dass der Untergang der „Maine“ auf ein Explosionsunglück im Maschinenraum des Schiffs zurückzuführen war.(6)
1960, mitten im Kalten Krieg, ließ die CIA einigen Journalisten „vertrauliche Dokumente“ zukommen, die belegten, dass die Sowjetunion dabei war, das Wettrüsten zu gewinnen. Sogleich begannen die großen Medien das Landes, Druck auf die Präsidentschaftskandidaten auszuüben, und forderten lautstark eine beträchtliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben. John F. Kennedy gab dem Druck schließlich nach und versprach ein Milliardenprogramm zum Bau neuer Interkontinentalraketen (Raketenlücke). Das entsprach nicht nur den Wünschen der CIA, sondern des gesamten militärisch-industriellen Komplexes. Nach der Wahl und der Bewilligung des Raketenprogramms musste Kennedy dann erkennen, dass die Vereinigten Staaten in Wirklichkeit eine erdrückende militärische Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion besaßen.
1964 meldeten zwei US-Zerstörer, sie seien im Golf von Tongking von nordvietnamesischen Torpedobooten angegriffen worden. Sogleich machten Fernsehen und Presse die Sache zur Staatsaffäre. Man sprach von Demütigung und forderte Vergeltung. Präsident Lyndon B. Johnson nahm die Angriffe zum Vorwand, um Vergeltungsschläge aus der Luft gegen Nordvietnam anzuordnen. Vom Kongress verlangte er eine Entschließung, die es ihm faktisch ermöglichte, die Armee einzusetzen. So begann der Vietnamkrieg, der erst 1975 – mit einer Niederlage – zu Ende gehen sollte. Später erfuhr man von Besatzungsmitgliedern der beiden Kreuzer, dass der Angriff im Golf von Tongking pure Erfindung gewesen war.
Dasselbe Szenario dann unter Präsident Ronald Reagan. 1985 erklärte er plötzlich den „nationalen Notstand“ wegen der „Bedrohung durch Nicaragua“ und die in Managua regierenden Sandinisten, die immerhin im November 1984 demokratisch gewählt worden waren und sowohl die politischen Rechte als auch die Meinungsfreiheit respektierten. Dennoch behauptete Reagan: „Nicaragua ist nur zwei Autotage von Harlingen, Texas, entfernt. Wir sind in Gefahr.“ Außenminister George Schultz erklärte vor dem Kongress: „Nicaragua ist ein Krebsgeschwür, das sich heimlich in unser Territorium frisst. Dort folgt man den Lehren von ‚Mein Kampf‘ und droht, die Kontrolle über die gesamte Hemisphäre zu übernehmen.“(7) Mit diesen Lügen rechtfertigte man die massive Unterstützung der antisandinistischen Contra-Rebellen, die schließlich zum Irongate-Skandal führte.
Mit den Lügen des Golfkriegs 1991 brauchen wir uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Sie sind eingehend analysiert worden(8) und als Paradebeispiele politischer Irreführung im Gedächtnis geblieben. Ständig wiederholte Behauptungen wie „der Irak, die viertgrößte Militärmacht der Erde“, „die Verwüstung der Brutkästen in der Frauenklinik in Kuwait“, „die unüberwindliche Verteidigungslinie“, „die chirurgisch präzisen Schläge“, „die Wirksamkeit der Patriot-Raketen“ usw. erwiesen sich als vollkommen falsch.
Seit Bush juniors umstrittenem Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen im November 2000 gehört die Manipulation der öffentlichen Meinung zu den zentralen Aktivitäten der neuen Regierung. Nach den verabscheuungswürdigen Anschlägen vom 11. September 2001 ist dieses Verhalten geradezu obsessiv geworden. Michael K. Deaver, ein Freund von Rumsfeld und Spezialist für „psychologische Kriegsführung“ (psy war), fasste das neue Ziel folgendermaßen zusammen: „Die militärische Strategie hängt in Zukunft von der Fernsehberichterstattung ab, denn wenn die öffentliche Meinung auf deiner Seite ist, kann dir nichts widerstehen; ohne sie ist die Macht ohnmächtig.“
Zu Beginn des Afghanistankriegs wurden daher in Zusammenarbeit mit der britischen Regierung Informationszentren in Islamabad, London und Washington eingerichtet. Ausgedacht hatten sich diese Propagandamaschine George Bushs PR-Beraterin Karen Hugues und vor allem Alistair Campbell – Blairs äußerst mächtiger Guru in allen Imagefragen. Ein Sprecher des Weißen Hauses erklärte die Aufgabe dieser Einrichtungen folgendermaßen: „Rundfunk und Fernsehen senden Nachrichten rund um die Uhr, und diese Zentren liefern ihnen Nachrichten rund um die Uhr.“(9)
Am 20. Februar 2002 enthüllte die New York Times das bislang aberwitzigste Projekt zur Manipulation der Köpfe. Um den „Informationskrieg“ führen zu können, hatte das Pentagon auf Anweisung von Verteidigungsminister Rumsfeld und seinem Stellvertreter Douglas Feith heimlich ein mysteriöses, von dem Air-Force-General Simon Worden geleitetes Office for Strategic Influence (Amt für strategische Beeinflussung) geschaffen, das die Aufgabe hatte, im Interesse der Vereinigten Staaten nützliche Desinformationen zu verbreiten, und zwar insbesondere gegenüber ausländischen Medien. Wie die New Yorker Tageszeitung berichtete, hatte das Amt einen Vertrag über monatlich 100 000 Dollar mit der Werbeagentur Rendon Group geschlossen, die schon 1990 bei der Vorbereitung des Golfkriegs behilflich gewesen war. Sie war es, die damals die falsche Erklärung einer „kuwaitischen Krankenschwester“ lancierte, die angeblich gesehen hatte, wie irakische Soldaten die Frauenklinik in Kuwait plünderten, „die Neugeborenen aus den Brutkästen rissen und gnadenlos umbrachten, indem sie sie auf den Boden warfen“(10). Diese Aussage trug entscheidend dazu bei, dass der US-Kongress für den Krieg stimmte.
Das Office for Strategic Influence wurde zwar nach den Enthüllungen in der Presse offiziell aufgelöst, ist aber ohne Zweifel immer noch aktiv. Wie sollte man sich sonst die grobschlächtigen Manipulationen während des jüngsten Irakkriegs erklären? Vor allem die ungeheuerliche Lüge über die spektakuläre Befreiung der Soldatin Jessica Lynch.
Wie man sich gewiss noch erinnert, berichteten die amerikanischen Medien Anfang April 2003 in großer Aufmachung und allen Einzelheiten über ihre Geschichte. Jessica Lynch gehörte zu den zehn Soldaten, die von irakischen Einheiten gefangen genommen wurden. Am 23. März sei sie in einen Hinterhalt geraten; sie habe bis zum Schluss Widerstand geleistet und auf die Angreifer gefeuert, bis sie keine Munition mehr gehabt habe. Sie sei schließlich niedergestochen, gefesselt und in ein Krankenhaus hinter den feindlichen Linien in Nassirija gebracht worden. Dort sei sie von einem irakischen Offizier geschlagen und misshandelt worden. Eine Woche später sei es amerikanischen, mit Hubschraubern ausgerüsteten Spezialeinheiten gegen den Widerstand von irakischen Wachen gelungen, in das Krankenhaus einzudringen, Jessica aufzuspüren und nach Kuwait zu bringen. Am selben Abend verkündete Präsident Bush der Nation aus dem Weißen Haus die Nachricht von Jessicas Befreiung. Acht Tage später übergab das Pentagon den Medien eine bei der Befreiungsaktion gedrehte Videoaufzeichnung mit Szenen, die der besten Kriegsfilme würdig gewesen wären.
Doch am 9. April ging der Irakkrieg zu Ende, und einige Journalisten – vor allem von der Los Angeles Times, vom Toronto Star, von El País und von BBC World – fuhren nach Nassirija, um die vom Pentagon gegebene Darstellung zu überprüfen. Sie fielen aus allen Wolken. Ihre Nachforschungen bei den irakischen Ärzten, die Jessica versorgt hatten, ergaben, dass die Verletzungen der jungen Frau (ein Arm und ein Bein gebrochen, ein Fußknöchel verrenkt) nicht auf Feuerwaffen zurückzuführen waren, sondern auf einen Unfall mit dem Lastwagen, in dem sie gefahren war. Auch war sie nicht misshandelt worden. Im Gegenteil, die Ärzte hatten alles getan, um sie bestmöglich zu versorgen. „Sie hatte viel Blut verloren“, erzählte Dr. Saad Abdul Razak, „und brauchte dringend eine Bluttransfusion. Zum Glück haben einige Mitglieder meiner Familie dieselbe Blutgruppe wie sie: null positiv. So konnten wir genug Blut beschaffen. Ich denke, wir haben ihr das Leben gerettet.“(11)
Unter persönlicher Gefahr versuchten die Ärzte Kontakt zu den amerikanischen Streitkräften aufzunehmen, um ihnen Jessica zu übergeben. Zwei Tage vor dem Einsatz des Sonderkommandos hatten sie ihre Patientin sogar in einem Krankenwagen in die Nähe der amerikanischen Linien gefahren. Aber die Soldaten eröffneten das Feuer und hätten ihre Heldin beinahe getötet. Im Morgengrauen des 2. April überraschten dann schwer bewaffnete Spezialeinheiten das Personal des Krankenhauses. Schon zwei Tage zuvor hatten die Ärzte den amerikanischen Streitkräften mitgeteilt, dass die irakische Armee sich zurückgezogen habe und Jessica auf sie wartete.
Dr. Anmar Uday beschrieb die Szene dem BBC-Korrespondenten John Kampfner: „Es war wie in einem Hollywoodfilm. Nirgendwo war ein irakischer Soldat, aber die amerikanischen Spezialeinheiten setzten ihre Waffen ein. Sie schossen wild um sich, und man hörte Explosionen. Sie riefen: Go! Go! Go! Der Angriff auf das Krankenhaus glich einer Show oder einem Actionfilm mit Sylvester Stallone.“(12)
Die Szenen wurden mit einer Nachtsichtkamera aufgenommen. Der Kameramann war Assistent von Ridley Scott bei den Dreharbeiten zu dem Film „Black Hawk Down“ (2001) gewesen. Wie Robert Scheer von der Los Angeles Times berichtete, wurden die Bilder für den Schnitt in die Kommandozentrale der amerikanischen Streitkräfte in Katar geschickt und nach einer Prüfung durch das Pentagon in die ganze Welt ausgestrahlt.(13)
Die Geschichte der Jessica Lynch wird in die Annalen der Kriegspropaganda eingehen. In den Vereinigten Staaten wird ihre Befreiung möglicherweise auch weiterhin als der heroischste Augenblick dieses Konflikts gelten. Obwohl inzwischen bewiesen ist, dass es sich dabei um eine ähnliche Art der Erfindung handelt wie bei den „Massenvernichtungswaffen“, die Saddam Hussein angeblich besessen hat, oder bei den Verbindungen zwischen dem irakischen Regime und al-Qaida.
Im Rausch ihrer Macht haben Bush und seine Umgebung die Bürger Amerikas und die gesamte Weltöffentlichkeit hinters Licht geführt. Ihre Lügen sind, wie Professor Paul Krugman meint, „der schlimmste Skandal in der politischen Geschichte der Vereinigten Staaten, schlimmer noch als Watergate, schlimmer noch als Irangate“.(14)
deutsch von Michael Bischoff