: Zwischen Rettung und Vernichtung
Am 20. Juni 1942 notierte Anne Frank in Amsterdam in ihr Tagebuch: „Judengesetz folgte auf Judengesetz, unsere Freiheit wurde sehr beschränkt. Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nur von 3 bis 5 Uhr einkaufen; Juden dürfen nur zu einem jüdischen Friseur; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos, im Schwimmbad, auf Tennis- oder Hockeyplätzen aufhalten; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen und dergleichen mehr.“
Zwei Wochen später tauchte Familie Frank unter. Im Hinterhaus von Otto Franks Firma fanden die Eltern mit den beiden Töchtern ein Versteck hinter Schränken und Tapetenwänden. Aus Berlin war die Anweisung gekommen, bis zum Jahresende zirka vierzigtausend Juden, also jeden zweiten jüdischen Bewohner Amsterdams, zu deportieren. Im Tarnvorkabular der Nazis: „Am 15. Juli 1942 begann die erste planmäßige Abschiebung der niederländischen Juden nach den vom Reich bestimmten Plätzen.“
Auf den ersten Aufruf zum „Arbeitseinsatz im Osten“ am 5. Juli 1942 hatten sich nur wenige Juden freiwillig gemeldet. Razzien und Verhaftungen waren die Antwort der Deutschen. Zur Durchführung der Razzien wurden zunächst auch Polizisten eingeteilt. Daneben, und später ausschließlich, wurde das Polizeibataillon Amsterdam eingesetzt, eine Sondereinheit, die vor allem aus Mitgliedern der „Nationaal-Socialistische Beweging“ bestand und dem Kommandeur der deutschen Ordnungspolizei in Amsterdam unterstellt war.
Der Historiker Guus Meershoek beschreibt die erste Razzia am 2. September 1942: „Beim Abholen der Juden standen die Polizisten unter großer Anspannung. Das Publikum, das aus einigem Abstand zusah, äußerte regelmäßig mit Geschrei seine Wut über ihr Handeln. Auch wenn die Widerstandskraft der Juden durch die vorangegangenen Ereignisse häufig schon gebrochen war und die Polizisten daher selten auf Gegenwehr stießen, konnte ihnen die verzweifelte Lage ihrer Opfer nicht entgehen. Ab und zu sprang ein Jude aus dem Fenster, wenn sie kamen, und jeden Abend trafen die Agenten Familien an, die Selbstmord begangen hatten, zum Beispiel indem sie den Gashahn aufgedreht hatten.“
Ende Juli 1942 war eine Sammelstelle eingerichtet worden, in der „Hollandsche Schouwburg“, einem populären Theater in der Amsterdamer Innenstadt, das zur Zufluchtsstätte vieler jüdischer Künstler geworden war, die durch Rassengesetze aus den etablierten Theatern verjagt worden waren. Seit 1941 hieß es „Joodsche Schouwburg“.
Von hier wurden die Menschen mit Lastwagen in das „polizeiliche Durchgangslager“ Westerbork gebracht und von dort planmäßig in die Vernichtungslager nach Osten. Insgesamt fuhren 98 Züge, der letzte am 13. September 1944, als die Alliierten bereits die belgisch-niederländische Grenze erreicht hatten. Da waren bereits 112.000 niederländische Juden in den Tod geschickt worden. Für die Hälfte von ihnen war die Schouwburg die letzte Station vor der Deportation. Am 4. August 1944 wurde auch Anne Franks Familie verhaftet. Anne Frank starb 1945 im KZ Bergen-Belsen.
Über Wanders Dienststelle gibt Peter Niebaums (gelegentlich zu unkritische) Monografie über deren Chef Calmeyer Auskunft: „Ein Gerechter unter den Völkern: Hans Calmeyer in seiner Zeit“, Osnabrück 2001, Rasch, 463 Seiten, 34,90 Euro. Das Erich-Maria-Remarque-Friedenszentrum in Osnabrück zeigt noch bis zum 19. Oktober die Ausstellung „Hans Calmeyer und die Judenrettung in den Niederlanden“ (Katalog bei V&R Unipress, 128 Seiten, 15,90 Euro). JOW