: Reisen im „Land der Tränen“
Eine Erfahrung, die unsere kollektive Fantasie stimuliert, die keine Gleichgültigkeit erlaubt, selbst wenn sie auf der banalen Ebene des Edeltourismus erlebt wird: Reisen durch Sibirien
von EGBERT HÖRMANN
Man hat Sibirien mit geschwollenen Diskursen bevölkert, mit wirren Bildern, die vor Erhabenem triefen. Vor allem zu dem Mythos des Fortschritts, diesem zentralen Fetisch unserer Zeit, hat Sibirien einen direkten Bezug. Der Mythos des Fortschritts beruht auf der totalen Herrschaft über die Natur, über das Schicksal und die Zeit. Sibirien stellt diesen Mythos in Frage und enthüllt dessen Grenzen, dieser schlafende Gigant, der jeden, der ihn erobern will, allein durch seine Größe bezwingt. Gleichzeitig ist die Natur dieses Landes empfindlicher als die anderer Gegenden – schon ein Gleiskettentrecker, der bei der Fahrt durch die Tundra die Moosdecke aufreißt, erzeugt dadurch eine folgenschwere Störung des Wärmeaustauschs in der Erdoberschicht.
Von Anfang an hat die „Sibirien-Literatur“ die Geschichte der gewaltigen Landmasse begleitet. Zur Reise- und Erforschungsliteratur gesellten sich etwa die Dichtertribune Puschkin, Nekrassow und Majakowski, die zu sibirischen Ereignissen Stellung bezogen. Tolstois moralische und soziale Empörung konzentrierte sich in seinem letzten Werk „Auferstehung“ im Sibirien-Teil, Dostojewski fand während seiner vier Jahre Zwangsarbeit den Stoff für die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, Tschechow schrieb einen politisch-epischen Reisebericht über Sachalin, mit Solschenizyn begann die sowjetische Lagerliteratur.
Die unwiderstehliche Anziehungskraft und das anhaltende Interesse an diesem „Land der Tränen“ und extremsten Gegensätze, „in dem neben der Roheit die Weichherzigkeit lebt, in dem die Grenzen zwischen Lastern und Irrtümern und zwischen Bösartigkeit und Witz in den unermesslichen Räumen … verschwimmen“ (so der Aufklärer Radistschew 1791), beweisen auch einige neue Bücher.
Einen Essay und ein Prosagedicht vereint in einer reizvollen dialektischen Montage der Band „Reise im Rückwärtsgang“. Zeitversetzt begaben sich der 1956 geborene Kurt Drawert und Blaise Cendrars (geb. 1887) auf die berühmte Transsibirische Eisenbahn. Beide Texte sind von der Reise erweckte Meditationen über einige zentrale Themen der Moderne: Leere, Indifferenz, Begegnung mit dem Selbst und mögliche Substanzlosigkeit. Drawert sieht in der Transsib-Reise die Sehnsucht, die Gegenwart zum Verschwinden zu bringen und „auf einem Weg in die Ewigkeit des Vergangenen zu sein“, und notiert: „Die Transsibirische Eisenbahn vereint … auf einmalige Weise alles, was die Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren in unserer Gegenwart ausmacht.“
Colin Thubron, mit Jan Morris, Bruce Chatwin und Ryszard Kapuscinski unbestritten einer der besten Reiseschriftsteller unserer Zeit, erfüllte sich Ende der Neunzigerjahre einen alten Traum: Allein reiste er zirka 15.000 Meilen durch Sibirien. Das Land, zu groß, um mit dem Verstand allein erfasst zu werden, und mit nichts vergleichbar, erweist sich ihm bald als ein geistiger Zustand, ein geografisch Unbewusstes. Ob Schamane, Exzentriker oder Ingenieur: Thubron, der immer nahe am sibirischen Menschen bleibt, hat mit „Schlafende Erde – erwachendes Land“ ein elegantes, einfühlsames Buch geschrieben.
Ähnlich waghalsig wie Thubron begab sich der renommierte deutsche Starreporter Klaus Bednarz auf eine Reise, den Strom Lena hinauf, dann quer über den Kontinent bis zum Stillen Ozean, von dort zur Beringstraße und dann hinüber nach Alaska. „Östlich der Sonne“ (atemberaubend schöne Fotos liefert der Begleitband „Vom Baikal nach Alaska“) ist tatsächlich „das verwegenste, ambitionierteste Projekt“, das er je in Angriff nahm. Seine These: Die Vorfahren der US-Indianer zogen vor vielen tausend Jahren aus dem Baikalgebiet nach Amerika. Bednarz findet dafür viele Belege. Und er räumt mit dem Vorurteil auf, Sibirien sei ein kulturloser Raum: Immerhin gibt es beispielsweise an den Felswänden der Lena Zeichnungen, die so alt sind wie die von Altamira in Nordspanien. Vermittelt wird aber auch seine tiefe Ehrfurcht vor den Fähigkeiten der Menschen, die in diesen unwirtlichen Gegenden leben.
„Sibirischer Schwindel“ von Stefan Sullivan berichtet über zwei Sibirienaufenthalte in den Jahren 1991 und 1994. Der junge Amerikaner begibt sich unter diesen besonderen Menschenschlag, die Nachfahren von Kosaken, Pionieren, Hasardeuren, Kaufleuten, Verbannten, Sträflingen und Angehörigen von Völkern, die schon Jahrtausende hier leben. Vom eloquenten Geschwafel eines russischen Tausendsassas verführt, macht sich das Greenhorn nach Jakutien auf, um einen Dokumentarfilm über die Traditionen des Schamanismus zu drehen, aber es kommt natürlich alles ganz anders. Daraus wird eine Abrechnung mit dem New-Age-Kitsch des Ethnotourismus, verbunden mit einer historischen Aufarbeitung wenig bekannter Aspekte des Stalin-Terrors. Die zweite sibirische Erfahrung ist nicht weniger abenteuerlich, wobei der Autor von seiner Zeit als Import-Export-Manager im postsowjetischen Babykapitalismus berichtet – ein rasantes Satyrikon à la russe zwischen Sex, Business, Suff und Idealen. „Robert Musil meets Charles Bukowski“ deliriert der Verlag zu diesem Roadmovie, das aber eher an Hunter S. Thompsons Meisterwerk „Furcht und Schrecken in Las Vegas“ erinnert. Sullivan ist allerdings sympathischer, da ihm jeder Zynismus fehlt und weil er sein wildes Absurdistan, dessen Seelenlage seinem eigenen Wesen teilweise entspricht, so liebevoll-luzide vorführt. Und er ist ein hochreflektierter Intellektueller, dessen Bildungsreichtum die schrägen Ereignisse unterfüttert, ohne das Lesevergnügen zeigefingerhebend zu stören.
Wir floaten durch die Zeit und durch gnädige Weiten, wir lieben die russische Langsamkeit: Es gibt Reisen, die die Seele berauschen und mit dem Tod versöhnen. Es ist eine sublime Landschaftssinfonie, die sich hinter dem Ural entfaltet. Je mehr man sich dem Baikalsee und der Taiga nähert, desto intensiver spürt man das Kraftzentrum des Landes, das auch wieder in die Städte zurückwirkt – als eine Sehnsucht nach Spiritualität, die aber auch in tumbe Gegenaufklärung münden kann.
Kurt Drawert, Blaise Cendrars: „Reisen im Rückwärtsgang“. Arche Verlag, 126 Seiten, 13,90 € Colin Thubron: „Sibirien: Schlafende Erde – Erwachendes Land“. Verlag Klett- Cotta, 343 Seiten, 19,80 € Stefan Sullivan: „Sibirischer Schwindel“. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 348 Seiten, 27,50 € Klaus Bednarz: „Östlich der Sonne“. Rowohlt Verlag, 389 Seiten, 19,90 € Der derzeit schönste Fotoband über die Transsib ist „Die Transsibirische Eisenbahn“ von Petra Woebke. Reich Verlag, Luzern, 206 Seiten, 49,90 €