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Archiv-Artikel

Zu den kalmückischen Brüdern

Früher war Kalmückien bekannt für die großen Pferdeherden, die auf seiner Steppe weideten. Heute kann das Land seine Bevölkerung kaum noch ernähren, und selbst die berühmten Pferde wurden Opfer der Hungersnot. Eine Reise in ein unbekanntes Land und in die postsozialistische Tristesse

Iljumschinow ist zugleich Präsident Kalmückiens und des Weltschachverbands Die Schachcity ist der ganze Stolz des modernen Kalmückien

von STEPHAN LISKOWSKY

„Nur 20 Autostunden südlich von Moskau beginnt Asien“, hatte mir Sascha in Moskau erzählt. Dann lächelte er mit seinen mongolisch geformten Augen. Und ich dachte, er macht einen Scherz. Sascha war der erste Kalmücke, den ich kennen lernte.

Von Sascha wusste ich nur, dass sein Vater angeblich beim Geheimdienst war und er selbst als Fotomodell in Moskau arbeitete. Das klang alles sehr dubios, nach einem schlechten Film. Doch dass Sascha nicht übertrieben hatte, bewies er mir wenig später. Sascha gab mir die Adresse von Ruslan und Andrej, seinen Brüdern, die in Elista, der Hauptstadt von Kalmückien, leben. „Besuch die mal“, sagte er. Und ich machte mich auf den Weg.

Ich sitze in einem Bus, links und rechts weites, plattes Kalmückien. Über der Steppe hängt auf hölzernen Masten ein Netz aus Strom und Telefonkabeln. Darunter erstreckt sich vertrocknetes Wiesenland. Das Netz sieht aus, als lauere es auf Beute, aber da ist nichts. „Das ist alles leer gegessen, die ganze Steppe.“ mein schlaksiger Busnachbar sieht nicht verbittert aus, als er das sagt, nur irgendwie immer noch hungrig. Er ist gerade an einem verstaubten Haltepunkt in den Bus gestiegen, weist mit dem Finger auf die endlose Weite und erzählt von riesigen Pferdeherden, die früher hier geweidet hätten, und von Schafen. Es gab sogar Kamele, sagt er. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde fast alles geschlachtet und aufgegessen. Die Kolchosen zahlten keine Löhne mehr, und der Hunger war einfach zu groß. Geändert hat sich nicht viel seitdem. Kalmückien, das Land hinter seinem ausgestrecktem Zeigefinger, kann keinen mehr ernähren. Statt dessen breitet sich die Wüste aus, verödet die Steppe immer mehr. Folgen des Klimawandels und der sowjetischen Landwirtschaft, deren industrielle Kolchosen gegen jede kalmückische Tradition verstoßen hatten. Die Kalmücken waren einst umherziehende Nomaden und Hirten großer Herden.

Hinter den Scheiben des Busses fliegt in einigen hundert Meter Höhe ein Schwarm Reiher vorbei, die über Kalmückien in Richtung Süden zum Kaspischen Meer ziehen. Aus der Perspektive der Vögel muss die Straße wie eine unendlicher, schnurgerader Strich auf grauem Papier aussehen, auf dem sich der Bus wie eine kleine Raupe langsam vorwärts schiebt. Im Osten beginnt die dünne Gerade in Wolgograd, das früher Stalingrad hieß, im Westen endet sie in der Hauptstadt Kalmückiens, in Elista.

Hier bin ich mit Saschas Bruder Ruslan verabredet. Er sitzt am Busbahnhof auf einer Bordsteinkante. Als ich aus dem Bus steige, erkenne ich Ruslan nicht, bis er mir, dem einzigen Ausländer, zur Begrüßung die Hand schüttelt. Ruslan erinnert nur entfernt an einen Kalmücken, er hat braune Haarstoppeln, eine große Nase und seine Augen sind nicht sonderlich asiatisch geformt. Warum er so anders aussieht als sein Bruder Sascha in Moskau? Ruslan lächelt, seine Mutter sei Kalmückin, sein Vater Tschetschene. Sascha in Moskau sei nicht wirklich sein Bruder, sondern ein Cousin, was für Kalmücken aber keine Rolle spiele: Bruder ist Bruder. Aber jetzt sei ich bestimmt hungrig. Zu Hause stehe ein großer Topf Borschtsch, den sein Bruder Andrej zubereitet habe. Sein Bruder? Nein, der sei genau genommen auch nicht sein Bruder. Aber das könne mir Andrej später selbst erklären.

„Das ist alles ganz einfach. Mein Vater ist Ukrainer, aber unsere Mütter sind Schwestern“, sagt Andrej und gibt mir auf den Teller einen Schlag Borschtsch, der nach Hammelfleisch riecht. „Aber wir halten zusammen wie Brüder.“ Ruslan und Andrej wohnen eine halbe Stunde außerhalb des Zentrums, in einem vierstöckigen Neubaublock. Die beiden neunzehnjährigen Ökonomiestudenten sind gerade erst hier eingezogen. Zu dritt sitzen wir um eine riesige Pappkiste, die die beiden zum Küchentisch umfunktioniert haben, löffeln die dicke Kohlsuppe und reden über Gott und die Welt. Denn auf diesen unscheinbaren 20 Quadratmetern ohne Warmwasser und Toilettenspülung vereinen sich brüderlich drei große Weltreligionen. Der Halbtschetschene Ruslan ist Muslim, Andrej ist wegen seines Vaters christlich-orthodox. Und beide sind durch ihre Mütter natürlich auch Buddhisten. Wie geht das, müssen sie sich nicht entscheiden für eine Religion? „Nein, Gott ist groß“, sagt Ruslan, „für ihn ist das überhaupt kein Problem.“

Wie groß Gott ist, erfahre ich am nächsten Morgen in einem Tempel. Ein buddhistischer Mönch drückt mir russisches Naschwerk der Marke Roter Oktober in die Hand. „Das gehört zur Zeremonie“, sagt Ruslan und steckt sich ein Stück Konfekt in den Mund. Der bunt geschmückte Innenraum des noch neuen Tempels ist gefüllt mit Gläubigen, die die Hände falten. Vorn singt ein Lama-Mönch die immer gleiche Melodie, bis er unvermittelt mit einem großen Holzschlägel auf einen Gong einschlägt. Die Gemeinde schreckt auf und beginnt, Runden durch den Tempel zu drehen, ein nicht enden wollender Kreislauf.

Bis vor wenigen Jahren war das Ausüben der buddhistischen Religion in Kalmückien schlicht verboten. 50 Jahre gab es keinen einzigen Tempel, Stalin hatte sie alle zerstören und viele Mönche ermorden lassen. Die Zeit des großen Terrors verschonte auch die einfachen Menschen nicht. In Kalmückien gab es bald keine Kalmücken mehr. Stalin ließ das ganze Volk nach dem Sieg in Stalingrad deportieren. Die Menschen wurden früh abgeholt und in Güterwaggons gesteckt, die nach Sibirien rollten. Volksfeinde sollen sie gewesen sein, mit Hitler hätten sie paktiert, so der Vorwurf von Stalin. Einige Kalmücken, so lautet ein Gerücht, die noch nie Fremde gesehen hatten, hielten die Deutschen wohl für Buddhisten. Wegen der vielen Hakenkreuze auf den Fahnen, eines urbuddhistischen Symbols. Ruslan erzählt, mehr als zehn Jahre sei das Volk in der Verbannung gewesen, die Hälfte sei gestorben – auf dem Transport und durch die schwere Arbeit. Erst 1957 durften sie wieder zurückkehren in die alte Heimat, die mittlerweile von Russen besiedelt war. Heute ist in Kalmückien ein neues Nationalgefühl zu spüren. Obwohl die Menschen auf der Straße fast ausschließlich Russisch sprechen, wird in den Schulen mittlerweile Kalmückisch gelehrt. Hier und da sieht man kalmückische Fahnen, und aus Glasvitrinen schauen kalmückische Helden.

Auch Andrej und Ruslan sind stolz, Kalmücken zu sein, obwohl ihnen das mancher nicht zugestehen will, weil sie eben nicht hundertprozentig so aussehen. Eine Gang hat die beiden Brüder deshalb im Studentenwohnheim regelmäßig verprügelt. Sie waren immer in der Überzahl. Da half es wenig, dass die Brüder zweimal in der Woche im Kraftraum schwitzen und Ringsport betreiben. Es gab nur einen Ausweg: Sie mussten umziehen, obwohl die Miete in dem Neubaublock viel höher ist als im Wohnheim. „Wir können uns die Miete gerade so leisten. Wenn es knapp wird, dann essen wir eben ein paar Tage nichts.“ Wie ausgehungert die beiden sein müssen, bemerke ich am nächsten Morgen an meinem leeren Rucksack. Eine lange Salami, ein Stück Käse, Schokolade, nach einer Nacht ist alles weg.

Natürlich arbeiten die beiden neben dem Studium, schlagen sich durch, aber es ist schwierig. Drei Euro bekommt Ruslan für zwölf Stunden, während deren er in einem kleinen VW-Bus, auf einem Hocker sitzend, Fahrscheine verkauft. Dafür bilden die Fahrer und Verkäufer eine enge Gemeinschaft. Selbstverständlich kann Ruslan, wenn er nicht arbeitet, auch kostenlos mitfahren in den so genannten Marschrutkis, die viel zu schnell durch die Schlaglöcher der Stadt rumpeln.

Am letzten Tag vor meiner Abreise fahren wir mit den Bussen kreuz und quer durch Elista. Zum kleinen Nationalmuseum, in dem ausgestopfte Steppenziegen stehen. Zum Denkmal für das deportierte Volk, das auf einem Hügel thront.

Aber ganz besonders liegt Ruslan ein Stadtteil am Herzen, der sich Schachcity nennt. Er sieht aus wie ein rheinhessischer Vorort, der inmitten der Steppe notgelandet ist: saubere Vorgärten, rote Dachziegel auf Schrägdächern, sogar ein Tante-Emma-Laden. All das wurde 1998 für die Schachweltmeisterschaft gebaut. Jetzt, nach der WM, wohnen hier Minister und hohe Beamten. Und überall prangen Bilder Kirsan Iljumschinows, des Mannes, der zugleich Präsident Kalmückiens und des Weltschachverbandes ist. Unter jedem Foto wird das minutiös erwähnt wie bei einem kleinen König. Die Schachcity ist der ganze Stolz Kalmückiens, jedenfalls in den Augen Ruslans. Ob ich dergleichen schon einmal gesehen hätte, fragt Ruslan. Nein, zumindest nicht in der Steppe. In Deutschland allerdings gebe es viele solcher Bauten. Deutschland, sagt Ruslan, als wir uns am Busbahnhof verabschieden, dorthin will er unbedingt einmal fahren.