: Andrejas ist im Krieg geblieben
Vor einem Jahr wurde Andrejas Beljo in Kabul von einem Selbstmordattentäter getötet. Zurück bleiben zwei Kinder, die Ehefrau und die Mutter
VON LUTZ DEBUS
„You are the sunshine, my only sunshine!“ – ein elektronischer Esel stimmt zur Begrüßung das freundliche Lied an. Mit einem Knopfdruck hat die zweijährige Marina ihr Spielzeug zum Singen gebracht. Kurz darauf sitze ich in der Nähe von Köln mit der Ehefrau und der Mutter von Andrejas Beljo um den Wohnzimmertisch. Gefasst sind die beiden Frauen. Dabei passt das Wort eigentlich nicht, nicht zu der Geschichte, die mir berichtet wird: Andrejas Beljo ist tot.
Mit einem Mannschaftsbus der Bundeswehr war er auf dem Weg zum Flughafen in Kabul, um nach 14-wöchigem Einsatz endlich wieder nach Hause zu fliegen. Neben dem Bus brachte ein Selbstmordattentäter ein Taxi zur Explosion. Vier Soldaten starben, alle Insassen wurden verletzt. Andrejas Beljo konnte aus den Trümmern nur tot geborgen werden. Das war am 7. Juni 2003.
Einen Kontakt zur Presse hatten die beiden Frauen bislang abgelehnt. Vor einem Jahr umlagerten Kamerateams das Haus. Irgend jemand hielt Andrea, der Ehefrau von Andrejas Beljo, ein Mikrofon unter die Nase und fragte: „Machen Sie der Bundeswehr Vorwürfe?“ Andrea Beljo antwortete nicht, las allerdings tags drauf, dass sie der Bundeswehr Vorwürfe mache.
Menschen aus dem Ort wurden interviewt, die ein völlig verzerrtes Bild von der Familie Beljo wiedergaben. Jemand rief Beljos Mutter an, sagte, dass er ein Kamerad ihres Sohnes gewesen sei. Dann erkundigte er sich nach ihrem Befinden. Durch die Formulierung erkannte sie, dass sie ausgehorcht werden sollte und beendete das Gespräch. Am nächsten Tag konnte sie in einer Zeitung mit sehr großen Buchstaben lesen, was sie alles gesagt haben soll. Nun aber, nach einem Jahr, fühlen beide Frauen, dass sie auch etwas zu erzählen haben, vielleicht auch etwas richtig stellen können.
Während sie sprechen, fließen den beiden Frauen immer wieder Tränen über die Wangen. Ist die Zeit für ein Interview tatsächlich schon gekommen? Davon zu erzählen, gibt Andrea Beljo zu bedenken, tue ihr auch gut. Ihr Mann war zehn Jahre bei der Bundeswehr. Erst habe er sich für vier, dann für acht, dann für zwölf Jahre verpflichtet. Irgendwann stand der Entschluss fest, Berufssoldat zu werden.
Familie Beljo ist 1969 aus Jugoslawien in die Bundesrepublik gekommen. Deshalb wuchs Andrejas zweisprachig auf. Bei den ersten Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Bosnien war er sofort als Übersetzer dabei. Vier Mal war er innerhalb von fünfeinhalb Jahren in Bosnien. Doch als er am 1. März 2003 nach Kabul flog, war allen Beteiligten klar, das dieser Einsatz gefährlicher sein würde.
Widerstrebend hatte er sich dazu bereit erklärt. Schließlich benötigte er einen weiteren Auslandseinsatz für seine Offizierslaufbahn. Am Telefon berichtete er dann seiner Familie von Raketeneinschlägen und Minendetonationen. „Ich kann nicht so oft an euch denken. Hier ist so viel los. Abends, wenn ich zur Ruhe komme, vermisse ich euch aber sehr.“ Ein Tag vor dem Heimflug rief Andrejas Beljo noch einmal seine Frau an: „Ich muss noch einmal deine Stimme hören.“
Andrea Beljo plante für den Sonntag eine Überraschungsparty für ihren Mann. Doch war sie auch voller Sorge. An jedem Abend in den 14 Wochen las sie vor dem Schlafen gehen noch den Life-Ticker am unteren Bildschirmrand bei n-tv. „Immer, wenn das Wort Afghanistan auftauchte, hätte ich mit den Fingernägeln die Tapete von den Wänden kratzen können.“
Am Samstag, den 7. Juni rief eine Freundin an. „Sag mir, dass es ihm gut geht!“ hörte Andrea Beljo eine völlig aufgeregte Stimme. Automatisch ging sie zum Fernseher. Über Videotext erfuhr sie, dass in Afghanistan ein Bus der Bundeswehr durch einen Bombenanschlag zerstört worden war.
Eine Freundin eines Bundeswehr-Kameraden rief an, wusste, dass Andrejas in dem Bus war. Ein Anruf beim Familienbetreuungszentrum der Bundeswehr ergab nichts. Es gab noch keine offiziellen Informationen. „Nach Uhrzeiten dürfen Sie mich jetzt nicht fragen. Ich weiß es nicht mehr. Irgendwann stand der Kommandeur mit dem Pastor hier aus dem Ort vor der Tür.“
Was für ein Mensch war Andrejas Beljo? Die Mutter erzählt von einem liebenswerten kleinen Jungen, der ihr immer alles erzählen wollte. Andrea Beljo lernte ihren Mann mit 16 kennen. Bei der Hochzeit im Oktober war schon klar, dass er im Januar für knapp ein halbes Jahr nach Bosnien abkommandiert werden würde. Andrejas war kein Mensch fürs Büro. Als Übersetzer schrieb er in Deutschland lange Texte, die in Aktenordnern verschwanden. Bei den Auslandseinsätzen sah er die Ergebnisse seiner Arbeit.
Andrea Beljo unterstützte ihren Mann, aber natürlich fühlte sie sich oft im Stich gelassen. Zu Beginn seines zweiten längeren Einsatzes in Bosnien konnte sein Sohn Justin gerade krabbeln. Als der Vater zurück kam, lief sein Sohn schon vor ihm weg. Andrejas Beljo war dennoch ein sehr engagierter Vater, zusammen gingen sie schwimmen, zu jeder Jahreszeit. Oder unternahmen eine „Männertour“ zur nächsten Eisdiele, bestellten entgegen des mütterlichen Rates Limonade und Eiscreme. Noch heute sprechen Mutter und Sohn täglich über den Vater.
Im vergangenen Herbst flog Andrea Beljo mit anderen Hinterbliebenen nach Kabul. Die Bundeswehr hatte ihr diese Reise auf Nachfrage angeboten. In den drei Stunden, in denen sie in Kabul war, besuchte sie die Stelle des Attentates, das Camp, in dem ihr Mann stationiert war und das Waisenhaus, in dem und für das er gearbeitet hatte. Dort fielen ihr seine Worte am Telefon wieder ein: „Wenn Du die leuchtenden Augen der Kinder sehen könntest, wenn ich ihnen einen Luftballon schenke, dann wüsstest Du, warum ich hier bin.“ Andrea Beljo sah, hörte, roch und fühlte die Armut und konnte nachvollziehen, warum ihr Mann von seinem Beruf so fasziniert war.
Ein Freund fragte Andrejas Beljo einmal, warum er bei der Bundeswehr sei. „Ich möchte, dass meine Kinder in Frieden aufwachsen. Und das möchte ich auch anderen Kindern ermöglichen.“ Dieser Satz, etliche Male bereits in den Siebziger Jahren bei friedensbewegten Podiumsdiskussionen von Offizieren benutzt – aus dem Mund von Andrejas Beljo erscheint er glaubwürdig.
Empfindet Andrea Beljo auch Hass? Gulbuddin Hekmatyar, einer der bedeutenden Stammesfürsten, soll dieses Attentat angeordnet haben. Ausführliche Nachforschungen werden nicht betrieben, um den fragilen Frieden im Land nicht zu gefährden. Die afghanische Bevölkerung, so Andrea Beljo, wolle Frieden. Nur die Gurus brauchen Krieg, um ihre Macht zu erhalten. Der Selbstmordattentäter ist für sie eine arme Sau. Er habe sich in die Luft gesprengt, damit seine Familie für immer ausgesorgt habe.
Andrea Beljo kann das nicht verstehen, wie kann ein Familienvater andere Familienväter umbringen? Die verschrobene Logik des Hasses die könne sie nicht nachvollziehen. Aber auch sie erwischt sich dabei, zu hassen. Sie müsse die Straßenseite wechseln, wenn ihr eine Frau mit Kopftuch entgegen kommt. „Ich gebe jenem verbohrten Glauben die Schuld.“ Auch auf die US-amerikanische Außenpolitik ist sie nicht gut zu sprechen. „Die Amerikaner bomben alles kaputt und Deutschland und die anderen Nationen sind dafür da, das dann wieder aufzubauen.“
Zwei sehr starke Frauen habe ich besucht. Die eine schwieg und weinte, die andere redete und weinte. Der Abschied fiel mir schwer. Gern hätte ich Worte des Trostes gefunden. Da seufzt Andrea Beljo: „Marina hat seine blauen Augen und seinen Dickkopf, Justin seine Willensstärke. Für die Kinder lohnt es sich, weiter zu machen.“ Zum Abschied drücke ich dem kleinen Esel die Pfote. Noch einmal das Lied: „You are the sunshine, my only sunshine ...“