: „Der ist noch warm“
Wenn sich ein Häftling umbringt, ist das für Justizbedienstete eine Grenzsituation – ebenso für die Insassen. In einem Protokoll schildern diese, wie sie den letzten Suizid erlebten. Die Justiz dementiert
VON PLUTONIA PLARRE
Einen Gefangenen am Fenstergitter hängend vorzufinden gehört wohl zu den schlimmsten Dingen im Berufsalltag von Justizbediensteten. Eine schnelle Reaktion ist gefragt: den Insassen vom Gitter schneiden, erste Hilfe leisten, einen Sanitäter oder Arzt holen – Minuten, die untätig verstreichen, können über Leben und Tod entscheiden.
Das geht hektisch ab, Türen klappern, die Alarmglocke schrillt, Füße trappeln, es wird gerufen. Die Aufregung bleibt den hinter Schloss und Riegel Sitzenden nicht verborgen, der Knast hat viele Ohren. Auch für die Zellennachbarn ist das eine Grenzsituation: Jedes Wort, jedes Geräusch, das von draußen hereindringt, bekommt in so einer Situation Bedeutung.
Von dem Grauen hinter Gittern bekommt die Öffentlichkeit in aller Regel nichts mit. Die Pressemitteilungen der Senatsverwaltung für Justiz klingen aseptisch. Nüchtern, sachlich und fast stets mit dem gleichen Wortlaut wird über Selbsttötungen im Gefängnis informiert.
Dreimal hat die Justizpressestelle in diesem Jahr schon solche Todesmeldungen verfasst. Alle betrafen die Justizvollzugsanstalt (JVA) Moabit, in der rund 1.200 Gefangene einsitzen, rund 700 davon in Untersuchungshaft. Im Untersuchungshaftbereich, wo ein 23-Stunden-Einschluss gilt, ist die Suizidrate höher als in anderen Gefängnissen. Darin unterscheidet sich Berlin nicht vom Bundesgebiet.
Die letzte Todesmeldung trägt das Datum vom 26. Mai 2004: „Der serbische Strafgefangene Bozidar (28) ist heute gegen 8.35 Uhr in der JVA Moabit leblos aufgefunden worden“, heißt es darin wörtlich. „Er hatte sich mit einem Gürtel am Fenstergitter erhängt. Ein Abschiedsbrief wurde nicht gefunden. Anzeichen für eine Suizidgefährdung waren vorher nicht erkennbar. Der Gefangene war in einer Doppelzelle untergebracht, der Mitgefangene befand sich jedoch beim Hofgang, als der Tote gefunden wurde. Der sofort benachrichtige Arzt konnte nach vergeblichen Wiederbelebungsversuchen nur noch den Tod feststellen …“
Die Presse druckt solche Meldungen in der Regel nur als Kurznotiz. Im Fall des Serben Bozidar S. soll es anders sein: Aus dem Moabiter Knast wurde der taz ein Bericht zugespielt, in dem Gefangene ihre Sicht der Ereignisse festgehalten haben. In dem Protokoll wird der Vorwurf erhoben, die Justizbeamten hätten keine ernsthaften Erste-Hilfe-Bemühungen unternommen.
Deckungsgleich mit den Angaben der Justizpressesestelle ist nur, dass der Serbe gefunden wurde, als die anderen Gefangenen vom Hofgang zurückkamen. Nachdem Alarm ausgelöst worden war, heißt es weiter, seien im ganzen Haus zunächst alle Gefangenen eingeschlossen worden. Nach einer Minute seien zu den zwei Dienst habenden Beamten, die den am Gitter Hängenden entdeckt hatten, weitere Beamte hinzugestoßen. Numehr sei Bozidar S. vom Gitter abgeschnitten worden. „Der ist noch warm“, habe einer der Beamten gesagt. Es sei nach einem Arzt gerufen worden, gekommen sei aber nur ein Sanitäter. Jemand habe gesagt: „Mund zu Mund mache ich nur mit Tubus.“ Lachen sei die Reaktion auf die Forderung nach dem Beatmungsschlauch gewesen. Dann seien „röchelnde Geräusche“ zu hören gewesen. Eine Stimme habe gesagt: „Er kommt wieder. Leg ihn in stabile Seitenlage, damit er nicht an der Kotze erstickt.“
Eine Beamtin soll dann gesagt haben, dass sie „im Schnitt drei Selbstmörder pro Jahr“ finde. Damit sei das Soll für dieses Jahr erfüllt. Dann wieder ausgelassene Stimmung und Lachen. „Es wurde beraten, ob die Feuerwehr zu holen ist, aber verworfen“, heißt in dem Bericht wörtlich. Dann habe jemand gesagt: „Sieht nach Genickbruch aus“, und – um 9.05 Uhr –: „Der ist weg“. Dann sei lamentiert worden, wer die Leiche wegbringe und wer den „Dreck“ wegmache.
Wenig später seien Polizei und Staatsanwaltschaft auf der Station erschienen. Die Stimmung sei fröhlich gewesen. Bozidar S. habe doch nur drei Jahre gehabt. Er habe sich selbst vorzeitig entlassen, habe jemand gewitzelt.
Justizbedienstete schauen mehr als andere Berufgruppen in menschliche Abgründe. Dass sie zynisch werden, kann man ihnen kaum vorgewerfen. Anders, wenn die Beamten keine ernsthaften Lebensrettungsversuche unternommen hätten, wie ihnen von Gefangenen unterstellt wird. Justizsprecherin Andrea Boehnke weist dies in aller Entschiedenheit zurück. Das Gegenteil sei der Fall. Ein Suzid sei für Justizbedienstete nie Routine. „Es ist alles getan worden, was getan werden musste“, betont die Justizsprecherin.
Aus dem ihr vorliegenden Protokoll der JVA Moabit ergebe sich, dass Bozidar S. um 8.35 Uhr entdeckt worden sei. Weil es in der Zelle zu eng für Wiederbelebungsmaßnahmen gewesen sei, hätten die Beamten den leblosen Mann auf den Gang gezogen. Selbstverständlich seien Herzmassage und Beatmung erfolgt, sagte Boehnke unter Berufung auf das ihr vorliegende Protokoll. Um 8.38 Uhr sei ein Krankenpfleger eingetroffen. Um 8.40 Uhr der Chefarzt des Haftkrankenhauses persönlich. „Wenn jemand helfen kann“, so Boehnke, „dann er.“ Um 8.55 Uhr habe der Arzt den Tod durch Strangulation festgestellt.
Auch wenn die Schilderung der Gefangenen aus Sicht der Justizverwaltung nicht zutrifft – zumindest inhaltlich trifft zu, dass mit dem Freitod von Bozidar S. der Schnitt für dieses Jahr erreicht ist: Das geht aus einer Statistik für die Jahre von 1994 bis 2003 hervor. Ausreißer sind das Jahr 1995 (4 Suzide), 1997 (7) und 2000 (8) – sonst waren es jeweils 3 oder weniger. Die dramatisch hohe Zahl an Selbsttötungen 2000 hatte zur Folge, dass eine Expertengruppe, bestehend aus Sozialarbeitern, Psychologen und Vollzugsmitarbeitern, die Fälle im Einzelnen unter die Lupe nahm.
Im Frühjahr 2001 legte sie ihren Untersuchungsbericht vor, unter anderem wurden Isolation, mangelnde Betreuung und fehlende Gesprächsmöglichkeiten für die hohe Suzidrate verantwortlich gemacht. Im untersuchten Zeitraum von 1991 bis 2000 hatten sich insgesamt 30 Gefangene das Leben genommen, bis auf zwei hatten sich alle erhängt. 17 hatten innerhalb der ersten Woche nach Einlieferung Suizid begangen. In der ersten Haftwoche, heißt es in dem Bericht, leide ein Inhaftierter besonders unter der Isolation. Das Gefängnispersonal sei wegen Überbelegung und Stellenabbau überlastet und kaum in der Lage, sich um die seelischen Nöte Einzelner zu kümmern.
Was das Personaldefizit angeht, hat sich die Situation in der JVA Moabit in der Zwischenzeit eher noch verschlechtert. Die Bediensteten würden aber besser geschult, um auf sensible Gefangene reagieren zu können, so die Justizsprecherin. Bei Neuaufnahmen sei man besonders wachsam und lege sie verstärkt in Doppelzellen. Weitere Erkenntnisse darüber, wie ein Suizidvorhaben frühzeitig erkannt und die Not der Gefangenen gelindert werden kann, erhoffe sich die Verwaltung von einer derzeit in Moabit durchgeführten Befragung von Inassen, die einen Selbstötungsversuch hinter sich haben.