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Archiv-Artikel

Russisch-Premiere im Europaparlament

In Lettland hat die Partei der russischen Minderheit gute Chancen, nach den Wahlen mindestens einen Vertreter nach Brüssel zu schicken. Doch die meisten Russen dürfen nicht mitwählen. Sie sind immer noch keine Staatsbürger

STOCKHOLM taz ■ Ins neue Europaparlament könnte erstmals ein russischsprachiger Abgeordneter gewählt werden – als einer der neun RepräsentantInnen Lettlands. Die Partei Für Menschenrechte in einem vereinten Lettland (PCTVL), die vor allem die russische Minderheit im Lande vertritt, hält sich in den Umfragen der letzten Wochen stabil bei einem Wert zwischen sieben und acht Prozent. Damit bekommt die PCTVL die Chance, nun einen oder gar zwei Abgeordnete nach Brüssel und Straßburg schicken zu können.

Dieses würde auch das Ergebnis einer langsamen, aber fortschreitenden Entwicklung hin zur Lösung der Nationalitätenfrage widerspiegeln. Diese hat dazu geführt, dass sich 180.000 russischsprachige LettInnen der Prozedur zur Erlangung der Staatsangehörigkeit unterzogen haben. Zusammen mit dem lettischen Pass haben sie auch das Wahlrecht erhalten. Umfragen zeigen, dass offenbar die meisten von ihnen die „eigenen“ Parteien zu bevorzugen scheinen.

Die meisten der 700.000 russischsprachigen LettInnen – das entspricht 36 Prozent der Gesamtbevölkerung, dürfen jedoch, wie schon bei der EU-Volksabstimmung, nicht ihre Stimme abgeben. Mehr als zehn Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit halten die baltischen Staaten damit nach wie vor einen großen Anteil ihrer Bevölkerung in einem Zustand politischer Unmündigkeit. Während Litauen die Integration am besten gelungen ist, hat Lettland mit dem prozentual höchsten Anteil „Staatenloser“ in der EU die akutesten Probleme. Estland nimmt eine mittlere Position ein.

EU-skeptischer als der Rest der Bevölkerung sind die Angehörigen der russischen Minderheit dabei aber keinesfalls. Im Gegenteil hoffen viele RussInnen gerade auf die EU im Hinblick auf eine schnelle Normalisierung ihres staatsbürgerlichen Status. Einer ist Boriss Cilevics. Er gehört nicht nur zur russischen, sondern auch zur jüdischen Minderheit in Lettland. Genau genommen ist er bereits der erste „russische“ Abgeordnete im EU-Parlament. Allerdings gelangte er nicht über eine Wahl dorthin, sondern wurde als Mitglied der „Partei der Nationalen Harmonie“ entsandt. Er führt auch deren Liste zu den Wahlen am kommenden Sonntag an.

Als Lettlands Abgeordnete mit den „Beobachtern“ der anderen Beitrittsländer im November 2002 zehn Minuten erhielten, um vor dem Parlament ihr Land vorzustellen, durfte Cilevics nicht sprechen: „Sie dachten, ich würde negativ über Lettland reden. Dabei wollte ich allgemein über die Menschenrechte und die Bedeutung der EU in diesem Zusammenhang sprechen.“

Dass Lettlands PolitikerInnen – „mit den Letten an sich gibt es kein Problem, wir leben miteinander und heiraten untereinander“ – die staatsbürgerliche Integration der russischen Minderheit absichtlich erschweren und verlangsamen, kann Cilevics sogar nachvollziehen: „Eine volle Integration wäre für das jetzige Establishment politischer Selbstmord.“ Die russischen Parteien würden erheblich an Gewicht gewinnen und die augenblickliche Machtbalance grundlegend verändern. Das wollten die vom jetzigen Zustand profitierenden Parteien natürlich so lange wie möglich verzögern.

Doch Cilevics ist optimistisch, dass über die EU auch die Situation der RussInnen in Lettland geklärt werden kann: „In der EU werden wir wie Letten behandelt werden. Zu Hause ordnet man uns nach unserem Namen, unserer Sprache, unserer ethnischen Herkunft ein. In der EU spielt das keine Rolle mehr. Da geht es nicht mehr um Lettisch oder Russisch, sondern allenfalls um Französisch oder Deutsch.“ Der erste russischsprachige Abgeordnete wäre da allenfalls eine schnell vergessene Fußnote in der Geschichte des EU-Parlaments. REINHARD WOLFF