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Archiv-Artikel

Der Täter ohne Eigennamen

Der Schutz der Persönlichkeit überwiegt, sagt das Landgericht

VON PLUTONIA PLARRE

Die Filmsequenz geht durch Mark und Bein: Vor den Augen von Polizeibeamten holt der kurz geschorene Neonazi mit einer langen, hölzernen Plakatstange zum Schlag aus und drischt sie einem passiv dastehenden Jugendlichen mit voller Wucht gegen den Kopf. Nachdem der Getroffene zusammengebrochen ist, schiebt einer der Beamten den Schläger hinter die Polizeikette. Der Neonazi versucht erneut, nach vorn zu stürmen, wird aber von umstehenden Personen daran gehindert. Dann entschwindet der Täter wild gestikulierend in der Menge. Festgenommen wird er zu diesem Zeitpunkt nicht.

Die Szene, die ein Passant mit seiner Digitalkamera festhielt, hatte sich am 13. März dieses Jahres auf dem Marktplatz von Rotenburg/Wümme am Rande einer Kundgebung der NPD und deren Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten abgespielt. Der Aufzug war von starken Protesten begleitet gewesen – dem versprengten Haufen von rund 40 Neonazis hatten mehrere hundert Gegendemonstranten, getrennt durch Polizeisperren, gegenüber gestanden. Der Angriff mit der Latte passierte, als die Aktion der Rechtsextremen eigentlich schon beendet war und die Polizei versuchte, diese durch die Gegendemo hindurch zum Bahnhof zu schleusen.

Der von dem Schlag getroffene Jugendliche war mit schwersten Kopfverletzungen zur stationären Behandlung ins Krankenhaus gebracht worden. Zur Stabilisierung seines zertrümmerten Jochbeins trägt er heute eine Stahlplatte im Schädelknochen. Aber auch für die taz hatte der Vorfall Folgen.

Unter der Überschrift „Handfeste Offensive“ hatten wir seinerzeit in der Regionalausgabe Nord über den Übergriff und die fragwürdige Polizeitaktik berichtet und dabei auch den vollen Namen des von Umstehenden als Martin Baumann* identifizierten 19-jährigen Schlägers genannt. Erst nach mehrmaliger Aufforderung aus den Reihen der Gegendemonstranten in Richtung Polizei: „Tut was“; „Das ist Baumann, der hat zugeschlagen“, so der Wortlaut in dem taz-Artikel, seien dessen Personalien aufgenommen worden.

Vertreten durch den Rechtsanwalt Klaus Kunze, der auch Autor bei der rechtskonservativen Wochenzeitung Junge Freiheit ist, erwirkte Baumann beim Landgericht Göttingen gegen die taz eine einstweilige Verfügung: Der taz wurde untersagt, öffentlich und insbesondere im Internet im Zusammenhang mit den Vorfällen in Rotenburg/Wümme den Namen des Gymnasiasten Martin Baumann zu nennen.

Der hatte gegenüber dem Gericht behauptet, er sei in der besagten Situation aus einer Gruppe von 10 Autonomen heraus angegriffen worden. Zur Abwehr eines Faustschlages habe er den Plakatträger von links unten nach rechts oben in Richtung des Angreifers geschwungen. „Dabei“, so Baumann, „traf ich jemanden an den Kopf“. Danach sei er festgenommen worden.

Der Film des Passanten, der über Antifa-Kreise zur taz gelangt ist und der auch der Kriminalpolizei Rotenburg vorliegt, straft Baumann Lügen. In dem Moment, in dem der Neonazi zum Schlag anhebt, wird er von niemandem angegriffen. Im Gegenteil. Er holt mit einer wuchtigen Bewegung gezielt gegen den Kopf des arglosen Opfers aus.

Das Landgericht Göttingen allerdings, das gestern über den Widerspruch der taz gegen die einstweilige Verfügung verhandelte, war nicht bereit, sich den Film anzusehen. Selbst wenn zuträfe, dass Baumann öffentlich auf einer Demonstration mit voller Absicht zugeschlagen habe, dürfe sein Name nicht genannt werden, weil der Persönlichkeitsschutz überwiege, signalisierte die Richterin, dass sie nicht geneigt ist, der taz zu folgen. Die endgültige Entscheidung wird am 21. Juni ergehen.

„Wer in dieser Weise schwerste Straftaten begeht und dabei auch das Licht der Öffentlichkeit nicht scheut, sondern geradezu sucht – er begeht die Straftat auf einer Demonstration –, der hat keinen Anspruch auf noble Diskretion der Presse“, hatte taz-Anwalt Johannes Eisenberg vor Gericht argumentiert und sich dabei auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts berufen: Wer den Rechtsfrieden breche, müsse dulden, dass das von ihm selbst durch seine Taten erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit befriedigt werde. Es könne nicht angehen, so Eisenberg nach der gestrigen Verhandlung in Göttingen, dass das Gericht „Nazischläger deckt, die in aller Öffentlichkeit vor den Augen der Polizei agieren“.

Baumanns Anwalt hatte geltend gemacht, es sei grundsätzlich unzulässig, dass die Presse über Straftaten unter voller Namensnennung des angeblichen Täters berichte. Eine Darstellung dürfe keine Vorverurteilung enthalten, den Betroffenen entlastende Tatsachen müssten vorgebracht und es müsse von diesem vor Veröffentlichung eine Stellungnahme eingeholt werden.

Aber da ist nicht nur der in aller Öffentlichkeit geführte Angriff, den der Film belegt und der die namentliche Berichterstattung nach Auffassung der taz rechtfertigt. Da ist auch das Verhalten der Polizei, zumindest das von drei Uniformierten, vor deren Augen die Tat bei der NPD-Veranstaltung geschah, die aber keine Anstalten machten, den Schläger festzunehmen, sondern ihn im Gegenteil in die Reihen seiner Kameraden zurückdrängten. „Das ist ein öffentlicher Missstand, den aufzudecken das gute Recht der Presse ist“, so Anwalt Eisenberg. Im Namen der taz hat er deshalb am 21. Mai bei der Staatsanwaltschaft Verden/Aller Strafanzeige wegen versuchter Strafvereitelung erstattet.

Eine Nachfrage in Verden nach dem Stand des Verfahrens wurde von der zuständigen Abteilungsleiterin, Silke Streichbier, vergangene Woche mit der Antwort beschieden: Zu einer Bewertung sei es noch zu früh. Anders verhält es sich mit dem von der Kripo Rotenburg gegen Martin Baumann geführten Verfahren: Die Ermittlungen wegen gefährlicher Körperverletzung sind vor wenigen Tagen abgeschlossen und die Akten zur Staatsanwaltschaft geschickt worden. „Aus unserer Sicht ist die Beweislage eindeutig“, verlautet aus Polizeikreisen. Sprich: Die Ermittler haben keinen Zweifel an Baumanns Schuld. Was das Verhalten der uniformierten Kollegen bei dem Einsatz angeht, ist man in Rotenburger Sicherheitskreisen allerdings anderer Meinung als Eisenberg. Es sei nie daran gedacht gewesen, den Schläger laufen zu lassen. Das zeige die zeitnah zur Tat erfolgte Feststellung seiner Personalien. Die eigentliche Festnahme sei aus taktischen Gründen ganz bewusst erst eine halbe Stunde später am Bahnhof erfolgt, um die Situation auf dem Marktplatz nicht noch mehr eskalieren zu lassen.

* Name geändert