: Es war einmal in Gotha und Eisenach
AUS GOTHA UND EISENACH MICHAEL BARTSCH
August Bebel und Wilhelm Liebknecht sind den Sozialdemokraten abhanden gekommen. Irgendwann um den 20. März 2003 wurden die Malereien der SPD-Väter aus dem Tivoli in Gotha gestohlen, wo im Mai 1875 die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands gegründet worden war. Auf 6.000 Euro bezifferte die Polizei den Schaden für die deutsche Sozialdemokratie – wobei das ebenfalls abhanden gekommene Gästebuch mit dem Eintrag Gerhard Schröders sicher den größten Wertanteil ausmacht.
„Ich bin über die Leere des Saals erschrocken!“, sagt Hans Jürgen Witt, als er den Saal betritt. Witt hat viel in die Geburtsstätte der SPD investiert. Der 52-jährige gelernte Maurer und Industriemeister ist ein verspäteter Ostsozialdemokrat. Er war schon eine Weile arbeitslos, als er 1997 der SPD beitrat. Im Tivoli bekam er eine ABM-Stelle als Geschäftsführer des Fördervereins. Die lief im Herbst vorigen Jahres aus, Witt ist seither wieder arbeitslos. Von „seiner“ Gedenkstätte kann er dennoch nicht lassen. Er klammert sich an die Fiktion vom Arbeitsplatz und an die räumlich greifbaren Wurzeln seiner Überzeugungen.
Wo Witt viel gegeben hat, tut die SPD heute kaum noch etwas. Die Briefe an SPD-Schatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier erwiesen sich irgendwann als nutzlos. Man möge sich doch ein bisschen mehr um das Geburtshaus der SPD kümmern, hatte Witt immer wieder gebeten. 15.000 Mark spendete daraufhin der Parteivorstand im SPD-Jubiläumsjahr 2000. Im Vorjahr gab es letztmals 6.000 Euro. Mehr will die Partei für ihre Geschichte nicht ausgeben.
Witt ist auch deswegen sauer. Aber vor allem deshalb, weil er Arbeitnehmer- und erst recht Arbeitsloseninteressen verraten sieht. Beim Jenaer Parteitag im März, auf dem sich die Partei auf die Landtagswahl am 13. Juni einstimmen wollte, hörte der Kanzler seinen Redebeitrag nicht mehr. „Kapitalismus hat etwas mit Ausbeutung zu tun!“, hatte Witt da gesagt. Danach wurde er als stellvertretender Kreisvorsitzender in Gotha abgewählt.
So sei das wohl, wenn eine Volks- zu einer Wirtschaftpartei mutiert, sagt Witt. Als die SPD im Jahr 2000 in der Gothaer Stadthalle ihr 125-jähriges Bestehen feierte, erinnerten er und seine Freunde noch einmal an das Gothaer Programm von 1875. Genutzt hat es nichts. Die Prognosen versprechen der SPD am kommenden Sonntag magere 20 Prozent.
Wenigstens bezahlt die Stadt Gotha, wofür die Partei selbst kein Geld ausgeben will: das Renovieren und Umbauen des Tivoli. Das liege nicht am guten Ruf der SPD, sagt Witt. Und dann lacht der sonst so ernsthafte Überzeugungssozi. Es ist in Gotha nämlich nicht anders als überall sonst in Thüringen oder Deutschland im sozialdemokratischen Wahlkampf: Rostbratwürste müssen als Köder dienen, damit überhaupt jemand einen Prospekt mitnimmt.
Nein, dass Gotha sich des Tivoli angenommen hat, ist eher der besseren Stimmung nach den Hartz-Gesetzen zu verdanken. Sie hatte mit Oberbürgermeister Volker Doenitz und Landrat Siegfried Liebezeit zwei Genossen in Amt und Würden gehoben. Ihnen allein sind die 300.000 Euro für das Tivoli aber nicht zu verdanken. Der Förderverein hat auch CDU-Mitglieder. Hauptsache, es wird gebaut.
Lebendiger als im verschlafenen Tivoli geht es 30 Kilometer weiter im Eisenacher Goldenen Löwen zu. Sechs Jahre vor dem Gothaer Vereinigungsparteitag gründeten Bebel und Liebknecht hier 1869 einer der beiden SPD-Vorläufer – die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). Nach Eisenach kamen die 283 Delegierten nicht, weil das Proletariat in dem bürgerlichen Villenstädtchen eine Macht gewesen wäre. Eisenach lag schlichtweg zentral und sprach kein Verbot für das Treffen aus. Auch heute ist die SPD hier eher in der Diaspora.
Daher verwundert es nicht, dass der „Löwe“ nicht durch die SPD lebt. Sondern vor allem durch das Geld der Untermieter – Ver.di, Mieterbund und „Weight Watchers“, die modernen Gewichtsabnehmer. Modern und leicht wünscht sich auch Jörg Reichenbach die SPD. Arbeiterpartei, das sei vorbei, sagt der Gothaer Kreisvorsitzende. Er arbeitet als Logistikchef bei Bosch in Eisenach und repräsentiert damit eher die leitenden Angestellten. Wenn der Betriebsrat meint, er müsse als SPD-Mitglied doch Arbeitnehmerinteressen vertreten, ist ihm das fast peinlich
Auf bundespolitische Themen möchte sich Reichenbach am liebsten gar nicht einlassen. Er setzt eher auf die überschaubare Kommunalpolitik. Über die Kontinuität irgendwelcher Werte von 1875 bis heute kann er nur so viel sagen: dass ein Gothaer Programm „nicht mehr geht“. Der örtliche SPD-Chef sieht aber das „Hauptproblem Wählbarkeit“, wenn die SPD nicht mehr als Partei der einfachen Leute gilt. Etwa zwanzig der 440 Mitglieder sind aus dem Gothaer Kreisverband ausgetreten, „vorwiegend ältere Genossen“, sagt Reichenbach. Und Arbeitslose wie sein ehemaliger Stellvertreter Hans-Jürgen Witt seien verbittert.
Die Partei sei auch schon zu Bebels Zeiten oft zerstritten gewesen, sagt Karin Richardt. Das soll Mut machen. Richardt ist ehrenamtliche Geschäftsführerin des August-Bebel-Vereins, der als Träger den historischen Goldenen Löwen an der Eisenacher Marienstraße finanziert und verwaltet. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Mitarbeiterin der SPD-Bundestagsabgeordneten Sabine Doht, die ihr Büro ebenfalls im Löwen hat.
Wie das Gothaer Tivoli ist auch der Löwe das Zentrum der SPD in der Stadt und im ganzen Kreis. In diesen Wochen bemerkt es jeder Eintretende sofort, wenn er über Stapel von Wahlplakaten stolpert. Wie in Gotha ist die Unterstützung der Bundespartei gleich null, was Karin Richardt nur mit einem „ärgerlich“ kommentiert.
Gern würde sie zu der Ausstellung forschen, die die DDR 1967 hier aufgestellt hatte. Aber es gibt keine Stellen, ohne Ehrenamtliche müsste das Haus abgegeben werden. Stattdessen springt die Geschäftsführerin als Seelenärztin für frustierte Genossen ein. Ein Dauerthema ist die Gesundheitsreform. Die passt auch Richardt nicht. Aber mit der CDU, davon ist sie überzeugt, wäre es noch schlimmer gekommen. Und auch Richardt sagt mit Überzeugung das überall gleiche Mantra eines künftigen Wahlverlierers: „Leider unterscheiden die Leute nicht zwischen Bundes- und Landespolitik.“
Die großen Zeiten der Arbeiterbewegung strahlten wohl allenfalls in die SPD selbst aus, sinniert Kreischef Reichenbach. Außerhalb der SPD könne sich sowieso niemand daran erinnern. Trauer allerdings schwingt bei dieser Feststellung nicht mit. „Man sollte den alten Sachen heute nicht immer noch nachhängen.“ In den Erfurter Kaisersälen, wo 1891 mit das erste Programm und der bis heute gültige Parteiname beschlossen wurde, gibt es nicht einmal eine Gedenktafel. Der Denkmalschutz erlaube das in dem mit Millionenaufwand restaurierten Kultur- und Veranstaltungszentrum nicht, sagt eine langjährige Mitarbeiterin. „Erinnerung lebt nur noch in unseren Köpfen“, sagt sie, und es klingt wie die Frage: „Was bleibt?“