: Dann macht es bumm, und dann kracht’s
Die deutsche Elf wird bei der Europameisterschaft in Portugal sprichwörtlich wie buchstäblich sang- und klanglos untergehen. Warum? Eben deswegen
VON RAINER MORITZ
Der deutsche Fußball krankt nicht an mangelnder Fitness seiner Akteure, an ungenügender Talentschulung, an der Flaute im Angriff oder an überdotierten Verträgen. Nein, es herrscht keine Fröhlichkeit mehr in der Bundesliga und der Nationalelf, es wird zu wenig gesungen. Früher, als die Profis ihre freie Zeit gerne mal zu einem Abstecher ins Plattenstudio nutzten, trafen sie auf dem Rasen prompt ins Schwarze. Heute wird das Singen den Fans überlassen, die ohnehin ein ordentliches Maß an Kreativität aufbringen müssen, um mit all ihrem Leid fertig zu werden – wie zuletzt mit dem 0:2 gegen die Paprika-Profis vom Plattensee.
Wenn Deutschland bei der Europameisterschaft bereits in der Vorrunde die Segel gestrichen und Ottmar Hitzfeld Rudi Völlers Nachfolge angetreten haben wird, geht es zuerst darum, die deutschen (Möchtegern-)Elitekicker stimmlich zu schulen, unter Anleitung von Gerhard Mayer-Vorfelder, Günter Netzer oder wem auch immer. Denn um 1970, da sind sich die Fußballanalytiker einig, spielte Deutschlands Nationalelf so gut wie nie zuvor. Dieses Hoch, das zum Gewinn der EM 1972 führte, währte nur kurz: „Kaum war Helmut Schmidt Bundeskanzler, verflachte das Spiel“, so der Fußball-Autor Helmut Böttiger.
Die komparatistische Forschung, die sich mit den Wechselbeziehungen zwischen populärem Gesang und populärem Ballspiel befasst, hat vernachlässigt, dass die Energie, die die Mannen um Franz Beckenbauer und Jupp Heynckes einst entfachten, nur durch das Singen entstehen konnte.
Blicken wir kurz auf die Glanzpunkte des Fußballschlagers zurück: Ein Gastarbeiter brach 1965 den Bann, Münchens Torwartgigant Petar „Radi“ Radenkovic, der seine Originalität in Hits ummünzte. Sein „Bin i Radi, bin i König“ zeichnete sich durch einen Text aus, dessen „Ausländerdeutsch“ heute Marieluise Beck, die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, auf den Plan riefe. „Steh ich so im Tor,/ kommt mir manchmal vor:/Leuten nehmen Spiel zu ernst,/haben nicht Humor“.
Was dem Löwentorsteher recht war, sollte anderen billig sein, und so traten in der Folge diverse Spieler vors Mikrofon und schmetterten dies und das, losgelöst von jeder gesanglichen Qualifikation. Franz Beckenbauer, Charly Dörfel, Norbert Nigbur, die Kremers-Zwillinge oder Gerd Müller sangen und konkurrierten in der Rubrik „Singende Sportler“ mit dem Hürdenläufer Martin Lauer, der Eislaufprinzessin Marika Kilius, dem Segler Willy Kuhweide oder dem Boxer Bubi Scholz.
Wovon sangen unsere Balltreter? Motivgeschichtlich lassen sich zwei Stränge unterscheiden: der Gesang vom Brotberuf und der Gesang vom Allgemeinmenschlichen. Während Torjäger Gerd Müller seine Haupterwerbsquelle zünftig beschrieb („Dann macht es bumm, ja, und dann kracht’s“) und Keeper Radenkovic seine Genialität pries, meinten andere auf den Spuren professioneller Schlagersänger wandeln und sich Herzschmerzthemen zuwenden zu müssen.
Diese Produkte sind lobenswert, weil auch sie Freude am Gesang vermitteln; musikalisch und textlich freilich überzeugen sie nicht immer restlos. Der Fußballer als Experte für zwischenmenschliche Angelegenheiten, das leuchtete nicht ein.
Franz Beckenbauer intonierte mit schleppender Stimme „Gute Freunde kann niemand trennen“, ein Lied, das einfallsarme Fernsehmacher bis heute einspielen, wenn sich Präsidenten von Trainern unschön trennen. Auch die kaiserlichen Stücke „1:0 für deine Liebe“ oder „Du bist das Glück“ ragten nicht aus dem Schlagereinerlei hervor.
Nicht anders auf Schalke: Die gut gefönten Helmut und Erwin Kremers besangen ein austauschbares „Mädchen meiner Träume“, und ihr Clubkamerad Norbert Nigbur erzählte in „Darum weißt du nichts von mir“ von der Begeisterung, die ein Mann empfindet, als er die Rückenpartie einer jungen Dame wahrnimmt. Sein anfänglicher, in einen großartigen Reim gebrachter Elan („In der Wohnung geht ein Licht an,/und ich dachte, ein Gedicht, Mann!“) verpufft rasch. Die Vorderansicht enttäuscht den Ruhrpottmacho, er dreht sich ab – eine frauenverachtende Einstellung, die postwendend dazu führte, dass Nigbur in der Nationalelf selten berücksichtigt wurde. Auch Außenstürmer Charly Dörfel, der fiepsend „Erst ein Kuss“ auf Vinyl presste, brachte es konsequenterweise nur auf elf Länderspiele.
Schöner klingen Lieder im Ohr, die zwischen Ballspiel- und Liebesglück eine Verbindung herzustellen suchen. Das Kölner Trio Hans Schäfer (einer aus der Wunder-von-Bern-Elf!), Heinz Hornig und Karl-Heinz Thielen wiesen in „Auf die Beine kommt es an“ darauf hin, dass weibliche und männliche Extremitäten sehr unterschiedliche Effekte erzielen können. Und auch Petar Radenkovic’ Ausflüge ins Grundsätzliche (in „Bisschen Glück in Liebe“) bemühten sich um eine Balance, die das Tagewerk des Interpreten nicht außer Acht lässt: „In der Liebe ist es manchmal wie beim Fußballspiel/man glaubt, dass man gewinnt das Spiel,/und kommt doch nicht ans Ziel“.
All das währte, wie gesagt, nur ein gutes Jahrzehnt. Nachzügler wie Fredi Bobic (mit Gerhard Poschner und Marco Haber als „Tragisches Dreieck“) oder der Paradiesvogel Jimmy Hartwig täuschen nicht darüber hinweg, dass der Niedergang des deutschen Fußballs, der durch Erfolge bei Welt- und Europameisterschaften oberflächlich kaschiert wurde, von einem anderen Niedergang begleitet wurde, vom Aussterben der Spezies „Singender Kicker“.
Was dem Einzelnen misslingt, kann auch im Kollektiv nicht glücken. 1974 hielt Helmut Schöns Mannschaft, trotz sich abzeichnender Schwäche, bis zum WM-Titel durch und überzeugte als unbeschwertes Gesangsensemble. Hauruckproduzent Jack White zeichnete für das unvergessene „Fußball ist unser Leben“ verantwortlich, das ein letztes Mal den alten Mythos der Freundschaftsbande besang: „Einer für alle, alle für einen …“
Danach kam wenig, und selbst österreichische Unterstützung – Udo Jürgens, der 1978 in „Buenos Dias, Argentina“ die Junta freundlich begrüßte („Er war lang,/mein Weg zu dir,/doch nun schwenk ich den Sombrero:/Guten Tag, du fremdes Land“) und Peter Alexander 1986 mit „Mexico mi amor“ – änderte nichts daran, dass sich der deutsche Fußball dem kommerziellen Gesang entzog. Heute kämen Musikproduzenten nicht einmal auf die Idee, Jeremies, Ballack oder gar Ziege für den Chor einer No-Name-Band anzuheuern.
Am besten gefällt im historischen Rückblick ein belgisches Paar, das Bayern Münchens Torhüter Jean-Marie Pfaff und das Gesangssternchen Fenna bildeten. Wie Nicole („Ein bisschen Frieden“) und Hans Hartz („Die weißen Tauben sind müde“) ließen sie sich von der Friedensseligkeit der Westeuropäer anstecken und verliehen 1984 ihrer Sehnsucht grammatikalisch unbefriedigend, aber moralisch einwandfrei Ausdruck: „Nur eines macht mir Sorgen:/der Gewalt (!) und die Raketen“.
Die Ideologiekritik, die – wie die Nichtideologiekritik – an vielem Schuld trägt, machte sich jahrzehntelang über die dilettierenden singenden Sportler lustig. Den goldenen Leichtathletinnen Ingrid Mickler-Becker, Heide Rosendahl und Liesel Westermann wurden Verse wie „Alle Welt verlangt von uns laufen, werfen, springen,/und wenn da mal Pause ist, sollen wir auch noch singen“ auf die Stimmbänder gedrückt.
Keine Angst, niemand möchte, dass Kevin Kuranyi oder Bernd Schneider einen engagierten Antikriegssong à la Jean-Marie Pfaff einstudieren, doch eines ist sicher: Ohne Fußballer mit Lied auf den Lippen wird das nichts bei dieser Europameisterschaft. Wo ist Stefan Raab, wenn man ihn mal wirklich braucht?