piwik no script img

Archiv-Artikel

Pillenschlucker in Nordbaden

Arzneimittel-Report 2003 zeigt regionale Unterschiede bei den Arzneiverordnungen. Erste Hinweise, dass günstige gute Medikamente durch teure riskante ersetzt werden

Von UWI

BERLIN taz ■ Was ist eigentlich in den Arztpraxen in Nordbaden los? Warum werden den Karlsruhern, Mannheimern und Heidelbergern 26 Prozent mehr Pillen verschrieben als dem Rest der Bevölkerung? Und vor allem: Warum schlucken die armen Menschen in Nordbaden doppelt so viele unwirksame Medikamente – Venen-, Leber- und Gallenmittel, Immunstimulanzien und dergleichen – wie alle anderen?

Dass Nordbadener besonders krank sind, vermutet der Bremer Pharmakologe Gerd Glaeske nicht. Eher, dass den Ärzten „dringend einmal Fortbildungsmaßnahmen“ verschrieben werden sollten. Diese hätten wenige Kilometer nördlich in Rheinhessen immerhin dazu geführt, dass im vergangenen Jahr fast fünfzig Prozent weniger umstrittene Arzneimittel verordnet wurden als im Bundesschnitt.

Glaeske stellte gestern seinen Arzneimittel-Report vor, den er jährlich im Auftrag der Krankenkasse GEK erarbeitet. Den Schwerpunkt legte er fürs Jahr 2003 auf die „schwindelig machenden“ regionalen Unterschiede im Verordnungsverhalten der Ärzte. Auffällig ist und bleibt, dass in den Ost-Ländern wesentlich weniger Pillen verschrieben werden als im Westen.

„Aus medizinischer Sicht“ seien die großen Unterschiede „nicht begründbar“, erklärte Glaeske. Es fehle offenbar immer noch an Therapierichtlinien, die auch befolgt würden. Ob jedoch solche Richtlinien erfolgreicher sein werden als die Besuche von Pharmareferenten, die jährlich 25 Millionen Mal in den deutschen Arztpraxen vorbeischauen, stellte Glaeske in Frage.

Was nun die umstrittenen Arzneimittel angeht, so gehören die, weil meist rezeptfrei, seit der Gesundheitsreform nicht mehr zum Leistungskatalog der Krankenkassen – und was die nicht zahlen müssen, kümmert sie auch nicht. Doch die Streichung der rezeptfreien Medikamente hat auch Nebenwirkungen. Viele Ärzte verschreiben nun riskante und teure Pillen auf Kassenkosten, damit die Patienten die nebenwirkungsarmen nicht selbst bezahlen müssen. Außerdem bewirbt die Pharmaindustrie riskante und teure statt erprobte günstige Mittel: Mit der – falschen – Behauptung, Paracetamol werde nicht mehr kassenbezahlt, werde nun das „gefährliche“ Schmerzmittel Metamizol verschrieben, sagte Glaeske.

Doch solche Entwicklungen beziehungsweise Fehlentwicklungen müssten noch etwas abgewartet und ausgewertet werden, erklärte GEK-Chef Dieter Hebel gestern. Insgesamt gehen er und Glaeske davon aus, dass die Kassenausgaben für Arzneimittel in diesem Jahr sinken werden. Im ersten Quartal 2004 sanken sie um 15 Prozent. UWI