: Es grünt in Thüringen
AUS NORDHAUSEN HEIDE PLATEN
Hügel und Wälder, Täler samt sattgrüner Wiesen, die Felsen darüber leuchten weiß. Die ganze Gegend ist aus Gips. „Hier gibt’s“, sagt Gisela Hartmann, „überall Gips.“ Der prägt die Landschaft am südlichen Harzrand rund um Nordhausen. Und er bestimmte das Leben der Menschen zu DDR-Zeiten ebenso wie nach der Wende. Er schaffte Arbeitsplätze, verwüstete die Region, zerstörte Berge, schuf steile Abbruchkanten und Mondkrater. Die Firma WICO ist inzwischen geschlossen, die Subventionen sind kassiert, die Arbeitsplätze vernichtet. Dem Ort Niedersachswerfen blieb der Blick auf eine Wüstenei, grauweiß aufragende Steilwände mit Abraumhalden rundherum.
Gisela Hartmann ist 65 und professionelle Umweltexpertin – weit gereist in die USA, nach Kanada und Japan, und tief verwurzelt in ihrer Heimat. Deshalb kandidiert sie in Nordhausen als Direktkandidatin der Grünen für die Landtagswahl, die in Thüringen am Sonntag zeitgleich mit der Europawahl abgehalten wird. Den Grünen werden gute Chancen eingeräumt – nach zehn Jahren in der außerparlamentarischen Opposition könnte ihnen der Einzug ins Parlament gelingen, könnten sie die sicher gewähnte absolute Mehrheit von CDU-Regierungschef Dieter Althaus gefährden.
Die Frau mit dem breiten, freundlichen Gesicht, den blauen Augen über dem Lachmund ist die Idealbesetzung, denn sie vereint fast alle Thüringer Befindlichkeiten und Neigungen in einer Person. Sie ist kein Wendehals, verdammt den Sozialismus aber auch nicht in Grund und Boden. Thüringer lieben ihre Heimat, sie sind naturverbunden. Und Hartmann ist beruflich und privat überzeugte Umweltschutzmanagerin geworden. Die Thüringer halten sich ihre Kultur und Geschichte zugute. Und Gisela Hartmann sagt, sie könne „mit wenig Geld, aber nicht ohne Theater und Bücher leben“. So was kommt eben auch an im Thüringischen.
Als evangelische Christin genießt Hartmann in diesem religiös geprägten Landstrich ohnehin großes Vertrauen. Wie ihre Landeschefin, Katrin Göring-Eckardt, die Fraktionsvorsitzende im Bundestag. Wie Astrid Rothe, die Spitzenkandidatin. Alle bewegten sich schon zu DDR-Zeiten in oppositionellen, umwelt- und friedensbewegten Kirchenkreisen. „Die große Traditionsverbundenheit, ein starkes Bürgertum, der Intellektualismus, die Naturwissenschaften, die Literatur – das war unser Reichtum“, sagt Gisela Hartmann. All das sei nach der Wende „verdrängt worden durch Kräfte, die kurzzeitige materielle Interessen vertreten“.
Seit über 25 Jahren kämpft Gisela Hartmann für den Erhalt der Natur, für eine gesündere Umwelt, für soziale Gerechtigkeit und kulturelle Vielfalt. Sie ist Mutter von drei Kindern. Als 1980 ein Sohn an Leukämie starb, hat sie angefangen, über die Umweltschäden und ihre Folgen zu recherchieren. „Das war in der DDR nicht gefragt. Braunkohleverheizung, Waldsterben, verschmutztes Wasser – alles tabu!“
Der Stasi war sie ein Dorn im Auge. „Was mich geschützt hat“, sagt sie, „das waren meine kirchlichen Ehrenämter.“ Sie war Synodale, organisierte Umweltforen. Dabei sollte die Tochter aus gutbürgerlichem Haus eigentlich Lehrerin werden, eckte am Institut für Lehrerbildung aber politisch an, ging freiwillig, absolvierte schließlich eine Ausbildung als Medizinisch-Technische Assistentin und arbeitete in einem Krankenhaus. Bis zur Wende. 1990 wurde sie Fachbereichsleiterin der Unteren Naturschutzbehörde im Landkreis Nordhausen.
Bei den Grünen ist Gisela Hartmann erst 1998 eingetreten, weil sie auf Dauer keine halben Sachen mag: „Wenn schon, dann richtig.“ Und weil das so ist, hat sie der Partei die Stange gehalten, auch nach den desaströsen Ergebnissen der Landtagswahl 1999. Bündnis 90/Die Grünen dümpelte um die Zwei-Prozent-Marke. Listenkandidatin Astrid Rothe diagnostizierte damals: „Wir stehen vor einem Scherbenhaufen.“ Hartmann erinnert sich: „Die Grünen waren praktisch tot.“ Den Kreisverbänden fehlten die Mitglieder. Nur eine Handvoll Versprengte traf sich noch. 2004 empfand sie „als letzte Chance“. Also begann Gisela Hartmann zu mobilisieren, warb Kandidaten, überzeugte in Gesprächen.
Der Themenkatalog der Landespartei liest sich, als sei er ihr auf Leib geschneidert worden. Er zielt auf Deutschlands Mitte, auf das „Grüne Herz Thüringen“, Natur- und Tierschutz stehen weit oben, Dosenpfand, Ökosteuer, Bürgerrechte, sanfter Tourismus. Sie weiß um die Sympathie und die Zustimmung, die sie und die Grünen sogar von Konservativen erhalten. Im Wahlkampf gebe es statt persönlicher Angriffe oft parteiübergreifende Einigkeit in Sachthemen. Das war auch im Frühjahr so, bei der Ausweisung der Rüdesdorfer Schweiz als Flora Fauna Habitat. Dafür hat sie in eisiger Kälte demonstriert, plakatiert, Briefe geschrieben, bis die Landesregierung nachgab und das Gebiet bei der EU nachmeldete.
Doch trotz des Erfolges traut sie weder der neuen Zustimmung der Politiker noch dem Wahlverhalten der Menschen recht: „Umweltpolitik hat immer nur Konjunktur, wenn es den Leuten gut geht.“ Im Alltag haben sie andere Probleme als den Erhalt der Gipskarstlandschaft, der Adonisröschen, von Frauenschuh und Fledermaus. Die Arbeitslosigkeit, deren materielle und vor allem psychische Folgen drücken die Menschen zuerst. Sie weiß das.
Dass die letzten Umfrageergebnisse für ihre Partei bis zu sieben Prozent reichen, kommentiert sie darum auch eher zurückhaltend. Sie hält „vier Prozent für genauso möglich“. „Aber“, sagt sie dann energisch und schüttelt den krausen Lockenkopf: „Ziel ist und bleibt die Sieben.“ Und die will niemand in Gefahr bringen, erst recht nicht durch voreilige Koalitionsaussagen. Man müsse es erst einmal überhaupt in den Landtag schaffen, mahnt Joschka Fischer. Und auf eine mögliche schwarz-grüne Option angesprochen, sagt er gleich: „Vergessen Sie es!“ So macht das auch Spitzenkandidatin Rothe. Sie hat in die Wahlprogramme geschaut und festgestellt, dass „CDU und Grüne am weitesten auseinander“ liegen.
Die Diskussionen über die „neue Farbenlehre“ Rot-Rot-Grün mit SPD und PDS oder gar Schwarz-Grün, falls die CDU ihre absolute Mehrheit im Land verliere, findet auch Gisela Hartmann ziemlich lästig: „Immer dieselben Fragen. Ich verantworte die Bundespolitik nicht.“ Und: „Wir haben hier andere Probleme als die in Berlin.“ Berührungsängste habe sie nie gehabt, nicht einmal zur SED. Für sie komme alles „auf die Personen an“. Sie sucht sich ihre Verbündeten selbst, ist von Fall zu Fall auch für den Bau eines Golfplatzes, wenn er den Gipsabbau verhindert.
Gisela Hartmann ist Profi im Dienst der Sache und lässt sich nicht festlegen. Aber man kann über alles reden, und irgendwann, also ihretwegen, eben auch über Schwarz-Grün. Ihr „Nicht so gerne“ schwingt nur in der schnellen, vehementen Kritik an der Unionspolitik mit: „Die CDUler nehmen die Schöpfungsbewahrung als Christen nicht ernst!“, ruft sie dann fast. Und die Haltung der Union zur Atomkraft ist für sie unakzeptabel: „Da muss noch viel passieren. Manche begreifen manches noch nicht. Aber ich glaube, dass die Leute sich entwickeln können.“
Die Nordhausener beispielsweise seien sehr eigenwillige Wähler, sagt Hartmann. Die Stadt, seit 1990 von über 48.000 auf 45.000 Einwohner geschrumpft, wählte je 14 CDU- und 14 SPD-Kandidaten in den Stadtrat, dazu fünf PDSler und drei von deren Abspaltung Demokratische Mitte. Vor Ort sieht die Situation eben oft anders aus.
Das müsse man wissen, besser noch sehen, und darum fährt Gisela Hartmann Besucher gerne zum Rüsselsee, einem im Berg klaffenden Kraterloch, dass die Heidelberger Zement zurückließ. Die von der Firma angekündigte Renaturierung hält sie für „Unfug“, unnötige Geldverschwendung. „Warum nicht alles der Natur überlassen?“, fragt sie und zeigt die geschützten Naturschönheiten der Rüdesdorfer Schweiz, die so sind, wie alles sein könnte, wenn es geblieben wäre, wie es war. Ein bröckelnder Felsüberhang am Waldrand, Salbei und Thymian wachsen da, Pimpernelle, Knoblauchrauke, Waldrebe.
Dann klettert sie vorneweg über die Gesteinsbrocken nach oben. In die Wand eingeschlossen sind tellergroße ovale, weiße Flecken: „Gipsaugen aus Alabastergips.“ Das ist die reinste Form und von den Abbaufirmen hochbegehrt als Grundstoff für Kosmetikindustrie und Zahnmedizin. Diese Alabasteraugen, stellt Hartmann zufrieden fest, sind vom Landratsamt längst als Naturdenkmal ausgewiesen.
Aber sicher ist sicher, und darum kämpfen die Naturschützer jetzt um noch mehr geschützte Flächen. Auf dem Rückweg fährt Gisela Hartmann auf der Landstraße um die hohe Felsnase des Mühlbergs herum. „Bizarr und schön“, findet sie die. Aber selbst dieser markante Felsen stehe für den Gipsabbau zur Disposition. „Dass der mal weg ist, ist für die Menschen hier unvorstellbar“, sagt sie. Und da ist sie dann wieder, die Heimatliebe der Thüringer. Eine Liebe, die den Grünen sieben Prozent bringen könnte. Manchmal macht ihr diese Erwartungshaltung der Anwohner auch ein wenig Angst: „Jetzt erhoffen die sich natürlich alles von uns.“
Sie weiß, dass jetzt noch mehr Arbeit auf sie zukommt. Eigentlich wird sie in dieser Woche Rentnerin, langsamer treten wird sie deshalb kaum. „Anfangs in meinem Leben habe ich gedacht, ich kann die ganze Welt ändern, jetzt bleibe ich hier vor Ort.“ Dort, wo die Rapsfelder blühen auf karstigem Grund und wo sie auch an diesem Abend wieder unterwegs sein wird, um Plakate mit ihrem eigenen Konterfei aufzuhängen. Weil das nun mal sein muss. Ihr Mann Wolfgang hilft dabei. Er ist Ingenieur im Ruhestand und SPD-Mitglied: „Wir haben zu Hause eine kleine rot-grüne Koalition.“ Und so viel ist sicher: Im Landtag ist diese Option dank der schwächelnden SPD ausgeschlossen.