: Was zu erwarten war: ein einfaches Massaker
Als die SS-Division „Das Reich“ Oradour erreichte, waren die Menschen ohne Arg. Erst als auf sie das Feuer eröffnet wurde, verstanden sie
PARIS taz ■ Die 18.000 Männer der SS-Division „Das Reich“ waren auf Folter, Mord und andere Repressalien gegen die Zivilbevölkerung spezialisiert. Mehr noch als auf den Krieg. Bevor sie im Februar 1944 in die südwestfranzösische Stadt Montauban versetzt wurden, hatten sie hunderte Orte in der Sowjetunion und in Polen total zerstört.
Anfang Juni berichtete SS-General Heinz Lammerding seinen Vorgesetzten von „terroristischen Banden“, die den französischen Südwesten kontrollierten: „Sie wollen einen kommunistischen Staat errichten.“ Er schlug vor, in Frankreich nach einer an der Ostfront erprobten Methode zu verfahren: Für jeden verletzten deutschen Soldaten „erhängen wir drei Terroristen“. Für jeden toten deutschen Soldaten „erhängen wir zehn Terroristen“. Mit Terroristen meinte Lammerding die Résistants.
Als am 6. Juni 1944 die Alliierten in der Normandie landeten, erging an die SS-Division „Das Reich“ der Befehl, an die Kanalküste vorzurücken. Zugleich intensivierte die französische Résistance ihre Angriffe auf deutsche Soldaten. Dazu wurde sie auch von US-General Eisenhower ermuntert, der das Oberkommando über die alliierten Landungstruppen hatte. An vielen Orten in Frankreich wurden Eisenbahnlinien, Brücken und Strommasten gesprengt, deutsche Militärkonvois beschossen.
Auf dem Vormarsch in die Normandie hinterließ „Das Reich“ eine mörderische Spur. Am 9. Juni 1944 marschierte eine ihrer Einheiten in die Stadt Tulle ein, die am Vortag von der Résistance erobert worden war. Die SS-Männer durchkämmten hunderte Wohnhäuser. Nach mehrstündigen „Selektionen“ verkündeten sie per Lautsprecher 99 sofortige Hinrichtungen. Die jungen Männer wurden vor den Augen ihrer Familien an Balkons und Laternenmasten im Zentrum von Tulle erhängt. 149 weitere Männer wurden nach Deutschland deportiert. Nur 41 kamen zurück.
Am selben Tag wütete eine andere Einheit von „Das Reich“ in Agenton-sur-Creuse. 68 Menschen wurden getötet.
Am Tag darauf war der 100 Kilometer nördlich gelegene Marktflecken Oradour-sur-Glane an der Reihe. In den vorausgegangenen vier Jahren deutscher Besatzung hatte der Ort keinerlei Widerstand geleistet. Als am Morgen des 10. Juni die SS-Einheit den Ort umzingelte und seine Bewohner auf den Marktplatz trieb, glaubten alle, es handele sich um eine Personenkontrolle. Nach Berichten der fünf Männer und der einen Frau, die den Tag überlebten, waren die Zusammengetriebenen ohne Arg. Angst kam nicht einmal auf, als die SS Männer und Frauen voneinander trennte. Sie verstanden erst, als die Division das Feuer eröffnete. Zu dem Zeitpunkt waren die Frauen und Kinder in der Kirche eingesperrt. In der Hitze des brennenden Gebäudes schmolzen auch die Kirchenglocken. Die Männer wurden in kleineren Gruppen in Ställen erschossen. An diesem Tag starben 642 Menschen in Oradour. Es war das erste Mal, dass die Deutschen in Frankreich systematisch Frauen und Kinder ermordeten. Weitere Massaker längs des Vormarschs der SS in Richtung Front folgten. Noch am 25. August 1944. Am Tag, als die Pariser ihre Befreiung feierten, wurden in Maillé 124 wahllos aus ihren Häusern geholte Zivilisten ermordet.
In Oradour rätseln die Überlebenden bis heute, warum ausgerechnet ihr Ort „ausgewählt“ wurde. Interessierte Kreise warfen in den Jahrzehnten des Kalten Krieges immer wieder Nebelwerfer in die Debatte. Unter anderem lancierten sie Gerüchte: in Oradour seien Waffen gelagert worden. Und: Oradour habe Résistants versteckt. Und: Jemand aus Oradour habe ein Attentat auf deutsche Militärfahrzeuge verübt. Als ob die eine oder andere Behauptung, für die es nie Beweise gegeben hat, dem Massaker irgendeine Berechtigung gegeben hätte.
Ein anderer Erklärungsversuch für Oradour ist, dass die SS es eilig hatte, in die Normandie zu kommen. Sie wusste, dass niemand in dem Ort Widerstand leisten würde. Und sie erwartete genau das, was sie bekam: ein einfaches Massaker. DOROTHEA HAHN