: berliner szenen Am Winterfeldtplatz
Von 4 bis 5 Uhr
Einer dieser Pathosmomente: das Morgengefühl nach schwer verbrachter Nacht – kurze gedankliche Ausflüge in den einstigen Englischunterricht (Cat Stevens) sowie in naturreligiöse Gestimmtheiten. Wie schön sich dieser Gefühlsmischmasch von Reinigung und Neuanfang, von Dankbarkeit und Staunen auch in der Großstadt einstellen kann, war an diesem Dienstag am Winterfeldtplatz spätestens um 4.50 Uhr zu registrieren. Über der Spreewaldschule fliegen zu diesem Zeitpunkt die Schwalben so hoch unter diesem stahlgrauen Himmel, auf dem zwei Flugzeuge ganz gerade Striche malen!
Daneben steht noch ein fetter abnehmender Halbmond – aber das Nachtgestirn hat keine Macht mehr über diese Stunde. Nichts endet mehr, alles ist schon auf Anfang gestellt. Die Zeitungsausträger stecken die Zeitungen in die Briefkästen. Frühaufsteher gehen mit ihren Hunden spazieren. Außerdem beginnt die Logistik rund um das Café-Latte-Ausschenken anzulaufen, es ist die Stunde der Putzkräfte. Um 4.40 Uhr werden die Rollläden des „Tim’s“ aufgezogen. Im neuen kleinen Café „Miss Honeypenny“ (der Neigung zu wortspielerischen Gaststätten- und Friseurnamen sollte man auch mal nachgehen) wirkt auch bereits eine Reinigungkraft.
Einer der Obdachlosen, deren Revier der Winterfeldplatz ist, macht auch schon seine Runde. Ich hatte immer gedacht, es sei ein recht kleiner Mann, doch nachdem er bzw. sie routiniert ins Wechselgeldfach eines Zigarettenautomaten gegriffen hat, um nachzusehen, ob jemand darin Geld vergessen hat, beginnt sie sich die Haare zu kämmen, und ich sehe, dass sie eine Frau ist.
DIRK KNIPPHALS
(5 bis 6 Uhr: kommenden Freitag)