: Mehr Stimmen bestimmen mehr
Am Sonntag entscheidet das Volk über das neue Hamburger Wahlrecht. Aus bisher einer Stimme werden zwei oder gar zehn. Beide Vorschläge im Vergleich: Das Modell Bundestagswahl gegen ein ausgefeiltes Konzept des Häufelns und Verteilens
von gernot knödler
Lange schon ist über eine Reform des Hamburger Wahlrechts, das dem Wähler nur einen minimalen Einfluss auf die Zusammensetzung der Bürgerschaft gewährt, debattiert worden. SPD und CDU bewegten sich erst, als im vorigen Jahr die Initiative „Mehr Bürgerrechte“ einen Bürgerentscheid erzwang. Gegen die Stimmen von GAL und FDP, aber mit Hilfe der zerborstenen Schill-Partei setzten CDU und SPD Ende Dezember in der Bürgerschaft einen Gegenvorschlag zu dem der Initiative durch. Über beide wird beim Volksentscheid am Sonntag abgestimmt.
Bisher hat jeder Wähler
eine Stimme, die er einer Partei geben kann. Wer als Abgeordneter ins Parlament einzieht, darüber entscheidet die Reihenfolge auf der Landesliste. Wer von seiner Partei oben platziert wurde, hat die größeren Chancen.
Nach den Modellen, die am Sonntag zur Auswahl stehen, sollen zusätzlich Wahlkreise eingeführt werden. Die Stimmenverteilung auf die Landeslisten der Parteien bestimmt bei beiden Vorschlägen nach wie vor die Sitzverteilung in der Bürgerschaft. Kandidaten, die in einem Wahlkreis gewinnen, ziehen aber auf jeden Fall ins Parlament ein und verdrängen dabei Kandidaten von der Landesliste.
Die großen Parteien schlagen 50 Wahlkreise vor, die die Bezirksgrenzen einhalten und sich nach Möglichkeit mit den Stadtteilen decken sollen. Die Initiative will 17 Wahlkreise, die ebenfalls die Bezirksgrenzen einhalten. Eine Orientierung an den Stadtteilgrenzen soll dadurch gewährleistet werden, dass die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises um ein Drittel von der durchschnittlichen Wahlkreisgröße abweichen darf. Ein großer Wahlkreis darf mehr, ein kleiner weniger Abgeordnete in die Bürgerschaft schicken.
Die beiden großen Parteien schlagen ein Wahlrecht nach dem Muster des Bundestagswahlrechts vor. Jeder Wähler hat zwei Stimmen: eine für einen Kandidaten seines Wahlkreises, der beim Erreichen der Mehrheit in die Bürgerschaft einzieht, und eine zweite für die Landesliste einer Partei. Die Zweitstimmen entscheiden das Sitzverhältnis der Parteien in der Bürgerschaft, wobei 50 der 121 Sitze auf jeden Fall von den Direktkandidaten aus den 50 Wahlkreisen besetzt werden.
Der Gesetzentwurf der
Initiative „Mehr Bürgerrechte“ geht weiter: Demnach hat jeder Wähler fünf Erst- und fünf Zweitstimmen, die er auf die Kandidaten der verschiedenen Listen beliebig häufeln (kumulieren) oder verteilen (panaschieren) kann. Die Zweitstimmen bestimmen auch hier das Sitzverhältnis im Parlament. 71 von 121 Sitzen besetzen die Direktkandidaten aus in diesem Fall 17 Wahlkreisen. Die Wähler können sich so von der vorgegebenen Kandidaten-Reihenfolge auf den Listen frei machen.
Nach dem Vorschlag von CDU und SPD kann pro Wahlkreis nur ein Abgeordneter gewählt werden, der durchschnittlich 24.000 Wahlberechtigte vertritt. Zur Wahl stehen pro Partei jeweils ein Kandidat und möglicherweise auch unabhängige Kandidaten, die ohne Untersützung durch eine Partei antreten.
Die Initiative dagegen will je nach Größe des Wahlkreises drei bis fünf Abgeordnete wählen lassen, die gemeinsam rund 72.000 Wahlberechtigte vertreten. Auch auf dem Wahlkreis-Wahlzettel stehen Parteilisten, auf welche die fünf Stimmen beliebig verteilt werden können. Beim Auszählen wird bestimmt, welche Partei wie viele Direktmandate des Wahlkreises erhält. Es kommen die Bewerber zum Zuge, die die meisten Stimmen erhalten haben.
Gewinnt eine Partei mehr
Direktmandate, als ihr nach dem Stimmenverhältnis zustehen, werden nach beiden Entwürfen „Überhangmandate“ vergeben. Weil diese das Größenverhältnis zwischen den Fraktionen verschieben, werden zusätzlich „Ausgleichsmandate“ für die anderen Parteien fällig, damit das Verhältnis zwischen den Fraktionen wieder dem Stimmenverhältnis entspricht. Dass es so zu einer Vergrößerung des Parlaments kommt, ist nach dem Entwurf der Initiative mit ihren vielen Direktkandidaten viel weniger wahrscheinlich als nach dem Entwurf der Bürgerschaft.
Nach dem Modell von „Mehr Bürgerrechte“ müssen Einzelbewerber oder neue Parteien für eine Kandidatur im Wahlkreis mindestens 100 Unterstützer-Unterschriften vorweisen, für eine Landesliste mindestens 1.000. Nach dem Modell der Bürgerschaft (CDU und SPD) liegen diese Grenzen bei 45 und 500.
Die Fünfprozenthürde
würde nach beiden Reformvorschlägen weiterhin gelten. Bei den Wahlen zu den Bezirksversammlungen, die nach dem Gesetzesvorschlag der Initiative im Prinzip wie die Bürgerschaftswahl funktionieren sollen, fiele sie allerdings weg.
Um das politische Gewicht der Bezirksversammlungen zu erhöhen, will die Initiative diese Wahlen an den Termin der Europawahl koppeln, die alle fünf Jahre stattfindet. CDU und SPD haben zur Wahl der Bezirksversammlungen keinen Vorschlag gemacht, weil sie das Ergebnis der Bezirksverwaltungsreform abwarten wollen.