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Archiv-Artikel

„Die Welt entfatalisieren“

Pierre Bourdieu war ein streitbarer und engagierter französischer Intellektueller. Seinem Werk widmete die Arbeitnehmerkammer eine Tagung. Jetzt wurden die Vorträge veröffentlicht.

Das Bildungssystem, die Globalisierung der Welt(wirtschaft), die Macht der Lebensstile und Konsumentscheidungen: Schon die Themen Pierre Bourdieus machen deutlich, dass der akademische Elfenbeinturm nicht sein bevorzugter Aufenthaltsort war. Endgültig berühmt wurde der französische Soziologe (1930 bis 2002) mit seinem politischen Engagement gegen den Neoliberalismus. Im Dezember 1995 hält er eine Brandrede vor streikenden Eisenbahnern in der „Gare de Lyon“ in Paris. Was er dort vorträgt, läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Es muß Schluß sein mit der Sachverständigen Tyrannei vom Typ Weltbank, die ohne Widerrede die Entscheidungen des neuen Leviathan, genannt ‚Finanzmarkt‘, aufzwingen, und die statt zu verhandeln, zu ‚erklären‘ gedenken.“ Eigenwillige Wissenschaft und politisches Engagement verbinden sich bei Bourdieu immer wieder zu öffentlichen Ereignissen. Eine Tagnung der Bremer Arbeitnehmerkammer beschäftigte sich folgerichtig mit dem Verhältnis „zwischen politischer Forschung, Theorie und Intervention“ im Werk Bourdieus. Die Vorträge der Tagung sind nun in einem Band dokumentiert.

von Franz Hector

Pierre Bourdieu hat im Lauf von mehr als vierzig Jahren ein kaum übersehbares Werk hinterlassen: von der „Soziologie Algeriens“, ethnologischen Untersuchungen über Untersuchungen des Bildungssystems in seinen verschiedenen Bereichen und Facetten, die „Die feinen Unterschiede“, eine Klassenanalyse entlang verschiedener Lebensstile, den „Staatsadel“, eine Analyse französischer Eliteschulen und Elitereproduktion, bis zum kolossalen Gemeinschaftswerk „Das Elend der Welt“. Auch wenn zentrale Begriffe seiner Forschung wie etwa Habitus und die von ihm unterschiedenen Kapitalsorten mittlerweile sogar in Singlebörsen vorkommen (“kulturelles Kapital sucht ökonomisches Kapital“), ist es nach seinem Tod im Januar 2002 still geworden um Bourdieu. Dies könnte daran liegen, daß er einem nichtakademischen Publikum erst relativ spät bekannt geworden ist, als Unterstützer der französischen Streikbewegung, als streitbarer Wissenschaftler gegen die „neoliberale Gegenrevolution“, als unermüdlicher Initiator von Gegenöffentlichkeit, als jemand, der es eben nicht beim Unterschreiben von Petitionen belässt und sich dann in seine Akademie zurückzieht, sondern in den Ring steigt und sich angreifbar macht.

„Kardinal Ratzinger der Wissenschaft“

Und angegriffen wurde Bourdieu immer. Den Kommunisten galt er als Antikommunist, sein früherer Förderer Raymond Aron hielt ihn wegen seines Buches über die Lage der Studenten gar für einen intellektuellen Wegbereiter des Mai 68; die linken Lehrergewerkschaften als Verfechter eines meritokratischen Bildungssystems fühlten sich in ihrem Selbstverständnis gestört, weil er nachwies, wie „konservierend“ die Schule trotz aller Reformen ist; gleiches galt für die Professorenschaft, deren Spiele und Spielchen um Macht und Reputation er im „Homo academicus“ durchleuchtet hat. „Lebendigen Vorwurf“ nannte ihn der Nouvel Observateur nach den Feinen Unterschieden, „Nestbeschmutzer“ hieß es nach dem Homo academicus, Eine „Ewig-Gestrigen“ und „Kardinal Ratzinger der Wissenschaft“ nannten ihn die liberal gewordenen Exmaoisten, seine Lieblingsgegner aus den Pariser Redaktionsstuben, weil er es gewagt hatte, auch die Journalisten und das journalistische Feld zu untersuchen: die zunehmende Abhängigkeit der Medien von Einschaltquoten und Anzeigenkunden, das Zitierkartell, das Geschwätz der immer gleichen Medienintellektuellen in den Talkrunden und auf den Debattenseiten der Presse, mit ihren gegenseitigen Abhängigkeiten und Lobhudeleien. Menschen, die über alles und jedes reden, an denen aber niemand vorbeikommt, der vorankommen will.

Bourdieu mußte nicht mehr vorankommen. 1981 war er in den Olymp des französischen Bildungssystems berufen worden, in das Collège de France, seit seiner Gründung im 16. Jahrhundert ein Ort für gelehrte Ketzer und Abweichler, die der Sorbonne nicht dogmatisch genug waren. Von dort aus brauchte er traditionelle akademische Schranken nicht zu wahren, die er schon mit seinem Werdegang vom klassischen Philosophen über den Ethnologen zum Soziologen nicht beachtet hatte, und konnte versuchen, „die Welt zu entfatalisieren“, das Selbstverständliche fremd und als historisch Gewordenes verständlich zu machen.

Darum ging es auch in einer Veranstaltungsreihe der Arbeitnehmerkammer mit dem französischen Kulturinstitut, die von November 2002 bis Februar 2003 die politischen Dimensionen seines Denkens vorstellte. Die einzelnen Vorträge sind nun unter dem etwas sperrigen Titel „Pierre Bourdieu – Politisches Forschen, Denken und Eingreifen“ erschienen: Nicht nur eine posthume Ehrung für „den ganz seltenen Fall eines Theoretikers, der seine Theorie auch lebte“, wie es im Vorwort der Herausgeberin heißt, sondern auch eine aufschlußreiche Einführung in Genese und zentrale Begriffe seines komplexen Werkes.

Soldat und Soziologe in Algerien

Franz Schultheis etwa skizziert den Werdegang des Absolventen der berühmten Ecole normale supérieure, der nach einer klassischen Ausbildung zum Philosophen als Wehrpflichtiger nach Algerien mußte, nach dem Wehrdienst als Dozent an der Universität Algier blieb und dort zum Ethnologen wurde. Zentrale Begriffe wie Habitus, symbolische Gewalt, symbolische Ordnung wurden hier geboren und entwickelt: Algerien war durch Kolonialismus, erzwungene Modernisierung und Krieg eine Gesellschaft im Umbruch, in der alte Werte, Ordnungs- und Zeitstrukturen, Tauschbeziehungen auf den Kopf gestellt wurden und gegen das neue, westlich-rationale Denken nichts mehr galten. Eine Entwicklung, die in der westlich-kapitalistischen Welt so lange dauerte, daß sie als natürlicher, nicht mehr hinterfragbarer Lauf der Dinge erscheint, spielte sich dort im Zeitraffer ab. An diesen Beobachtungen entwickelte Bourdieu seinen „fremden Blick“ als Ethnologe, den er nach der Rückkehr nach Frankreich auf die eigene Gesellschaft richtete und dabei zum Soziologen wurde.

Heiko Geiling analysiert das Opus magnum, „Die feinen Unterschiede“, und deren zögerliche Rezeption in Deutschland, wo nach der Behauptung einer angeblich „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ und dem sozialdemokratischen Demokratiewagnis der siebziger Jahre offensichtlich wenig Bedarf an Klassenanalyse bestand. Das waren „Die feinen Unterschiede“ für die französische Gesellschaft der 1970iger Jahre, doch sie beanspruchten mit ihrem Instrumentarium eine Geltung über Frankreich hinaus, wollten sie doch „die weithin verborgenen, verleugneten oder als selbstverständlich hingenommenen Formen und Praktiken des Klassenkampfes aufdecken, die Formen des symbolischen Klassenkampfes“. In diesen symbolischen Kämpfen geht es um Deutungshoheit, um die Durchsetzung von Sichtweisen, die um so wirksamer sind, je selbstverständlicher sie geäußert werden. Wenn es in der populärenRedewendung heißt, dass „sich über Geschmack nicht streiten läßt“, dann steckt darin bereits eine implizite Anerkennung des – herrschenden – Geschmacks.

Sanfte Gewalt der Moderne

Um symbolische Kämpfe, symbolische Gewalt und symbolische Herrschaft, für Bourdieu „politisch ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger als die Phänomene ökonomischer Herrschaft“, geht es auch in den Beiträgen von Lothar Peter, Irene Dölling und Beate Krais: Symbolische Gewalt wirkt als „sanfte Gewalt in modernen Gesellschaften, in denen die Aufrechterhaltung von Ungleichheit, Abhängigkeit und Fremdbestimmung im Interesse herrschender sozialer Klassen nicht mehr mit physischer Gewalt und offener politischer Repression“ erzwungen wird, sondern durch gemeinsame Sicht- und Wahrnehmungsweisen von Herrschenden und Beherrschten. Der Skandal der Massenarbeitslosigkeit, der zu einem Leben am Existenzminimum gezwungenen Minijobber, das Ausbleiben eines wütenden Protests gegen diese Zumutungen läßt sich nur dadurch erklären, daß einerseits den Menschen eingehämmert wird, es gäbe „keine Alternative“, sie insgeheim aber auch selbst glauben, sie seien „zu teuer“. Das ist auch nicht verwunderlich in einem Land, wo seit Bismarcks Zeiten Unternehmer Arbeitgeber und Lohnabhängige Arbeitnehmer heißen und wo von den fünf Wirtschaftsweisen in steter Regelmäßigkeit behauptet wird, daß das System nur durch größere Ungleichheit zu retten sei. In diesen allgemein anerkannten Sprachregelungen, einer „Dialektik von Anerkennung und Verkennung“, in denen Abhängigkeiten verschleiert oder umgedeutet werden, äußert sich symbolische Gewalt, „die alle Bereiche der Gesellschaft durchzieht, auch solche, wo man sie am wenigsten vermutet.“

So etwa bei der „männlichen Herrschaft“, für Irene Dölling eine beispielhafte Form der symbolischen Gewalt, weil die Klassifikation nach Geschlechtern so „selbstverständlich“, so „natürlich“ erscheint, weil sie sich auf die „Objektivität eines natürlichen Unterschieds zwischen den Geschlechtern“ gründet. Gesellschaftliche Zuschreibungen zur Etablierung der männlichen Herrschaft werden dann zu „nicht hinterfragbaren Gegebenheiten, weil sie aus biologischen, nicht gesellschaftlich produzierten Bedingungen resultieren.“

Zentrales Medium der Vermittlung der symbolischen Gewalt ist der Habitus, einer der fruchtbarsten Begriffe Bourdieus, der sehr viel tiefer reicht als das Konzept der „Rolle“ und uns eine Erklärung dafür liefert, warum wir wurden, wie wir sind, und bleiben, wie wir waren. In den Habitus schreiben sich persönliche und soziale Erfahrungen, Siege und Niederlagen als weitgehend unbewußte Prozesse körperlich ein und erzeugen zugleich eine bestimmte Wahrnehmung einer veränderbaren oder fatalistisch hinzunehmenden Welt.

Der Autor ist Politikwissenschaftler und in der Bremer Villa Ichon für die Programmgestaltung zuständig.

Margareta Steinrücke (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Politisches Forschen, Denken und Eingreifen, VSA-Verlag, Hamburg 2004, 176 Seiten, 14 Euro 80