: Härtester unter Harten
Tyler Hamilton hat sich gleich auf der zweiten Etappe bei einem Sturz das Schlüsselbein gebrochen. Ans Aufgeben denkt er dennoch nicht. Warum auch? Vor der heutigen Etappe liegt er auf Rang fünf
aus Marseille SEBASTIAN MOLL
Tyler Hamilton sieht man seine 31 Jahre nicht an. Der kleine schmächtige Mann aus Marblehead in Massachussetts hat ein sommersprossiges Lausbubengesicht und abstehende Ohren. So wie Hamilton stellt man sich Tom Sawyer vor, den Knaben aus den Mark-Twain-Romanen, der aus Schalk unversehens in Abenteuer stolpert, die ihm dann aus dem Ruder laufen. Er ist der Typ des Halbwüchsigen, dem man nicht böse sein kann, egal, was er schon wieder ausgefressen hat.
Ein Lausbub ist Hamilton allerdings nicht, sondern ein gestandener Mann, der Männerabenteuer besteht. Wie die Tour de France beispielsweise. Die Tour, darauf kann sich die Sportwelt einigen, gehört zu den schwersten körperlichen Prüfungen, die sich Menschen für Menschen ausgedacht haben – grausam ist sie bisweilen und unerbittlich –und einem wie Hamilton möchte man am liebsten sagen: Das ist nichts für dich. Aber der milchgesichtige Amerikaner ist der Tour nicht nur gewachsen. In ihrer ersten Woche entpuppte er sich als der härteste der 198 Männer, die sich auf die 3.426 Kilometer um Frankreich begeben haben.
Hamilton brach sich gleich auf der ersten Etappe bei einem Massensturz das Schlüsselbein, zwei klare Risse waren auf dem Röntgenbild zu erkennen. All seine Hoffnungen und die seiner Mannschaft schienen dahin, die Saison, die für ihn mit zwei großen Siegen bei der Tour de Romandie und bei Lüttich–Bastogne–Lüttich so gut begonnen hatte, war vermeintlich zu Ende. Doch mitten in der mit pochenden Schmerzen durchwachten Nacht entschloss sich Hamilton, so schnell nicht aufzugeben. Er ließ die Mechaniker sein Rad so umbauen, dass er sich einigermaßen im Sattel halten konnte, fragte die Mannschaftsärzte nach den stärksten vom Dopingreglement erlaubten Schmerzmitteln – und ging am Morgen an den Start.
Die 204 Kilometer von La Ferté-sous-Jouarre nach Sedan waren eine unerträgliche Quälerei, aber Hamilton kam an, als 100. Es ging, irgendwie, und deshalb probierte er es am nächsten Tag noch einmal. Und noch einmal und noch einmal. Als es am vergangenen Sonntag, dem sechsten Tag von Hamiltons Passion, dann in den Schlussanstieg nach L’Alpe d’Huez ging, traute man seinen Augen nicht: Die verletzte Schulter im Krampf nach vorne gebeugt, mehr in die Pedale hineinhinkend als tretend, fuhr Tyler Hamilton an der Seite von Lance Armstrong bis hinauf auf 1.800 Meter. Und besaß auch noch die Stirn, seinen ehemaligen Mannschaftskapitän anzugreifen.
Hamilton hat viele Vorbilder in der Radsportgeschichte. Bernard Hinault etwa brach sich 1985 bei einem Sturz in der ersten Woche das Nasenbein. Er konnte kaum atmen und verlor deshalb auf der ersten Pyrenäenetappe den Anschluss. Doch er fing sich wieder und gewann die Tour vor Greg LeMond. Rolf Aldag brach sich im vergangenen Jahr in der ersten Woche eine Rippe und kam dennoch nach drei Wochen in Paris im Ziel an. Jean-Claude Bragot fuhr mehrere Etappen mit einem gebrochenen Ellbogen, Pascal Simon verteidigte mit gebrochenem Brustknochen das gelbe Trikot.
Das Leiden ist ein Prinzip des Radsports. Es gibt keinen Radprofi, der nicht mit den verschiedensten Arten des Schmerzes eng vertraut ist; schon gar kein Profi, der die Tour fährt. Lance Armstrong glaubt gar, dass er deshalb der Beste ist, weil er mehr leiden kann als andere: Im Training und im Rennen hält er die Schmerzen, mit denen sich der Körper gegen die Schwerstarbeit wehrt, ein wenig länger aus als seine Gegner.
Die Erfindung des Fahrrads in seiner heutigen Form im 19. Jahrhunderts eröffnete dem Menschen bis dato ungeahnte Möglichkeiten des Leidens. Man konnte damit Hunderte von Kilometern zurücklegen, Tage und Nächte lang fahren, und das Publikum wurde gar nicht satt davon, die Männer zu sehen, die das aushielten. Auch bei der Tour machte das Leid der Akteure von Anbeginn die Anziehungskraft des Spektakels aus und war Teil des Kalküls der Initiatoren. Insofern ist Hamilton nur einer, der für seinen Beruf besonders gut geeignet ist.