: Der Münte-Defekt
Nichts ist mit Münte-Effekt. Parteichef Franz Müntefering braucht lange, um das Debakel der SPD in Worte zu kleiden. Die Grünen sind da redseliger
AUS BERLIN JENS KÖNIG UND MATTHIAS URBACH
Was sagt man als Sozialdemokrat an so einem Abend? Man müsste sagen, was Politiker sonst nur denken: Scheiße. Eine Katastrophe. Keine Ahnung, wie wir das verkraften sollen.
Solche Sätze wären die einzigen angemessenen angesichts des schlechtesten Ergebnisses, das die SPD bei einer bundesweiten Wahl nach 1949 je eingefahren hat: knapp 23 Prozent bei der Europawahl. Die katastrophalen 15 Prozent in Thüringen tun da nur noch ein Übriges.
Aber was sagt der oberste Sozialdemokrat des Landes, der Herrscher der Partei, Kaiser Franz II.? Er sagt erst einmal – nichts. Besser könnte er die Ratlosigkeit der SPD nicht zum Ausdruck bringen. Ausgerechnet Franz Müntefering. Seit seiner Machtübernahme in der Partei im Februar hatte er auf alles eine Antwort, er redete die Probleme klein, zumindest so klein, dass das Selbstvertrauen vieler Genossen wieder größer wurde. Aber an diesem denkwürdigen Abend schweigt er fast anderthalb Stunden lang. Diesmal ist es Münteferings Niederlage, nicht mehr die des unbeliebten Kanzlerparteichefs Gerhard Schröder. Schröder ist jetzt fein raus. Der Nur-Noch-Kanzler muss zum Stand der Dinge in der Partei nichts mehr von sich geben.
Also muss Klaus Uwe Benneter ran, der Generalsekretär der SPD, der weder der General noch der Sekretär der Genossen ist, sondern ihr Punchingball, auf den alle eindreschen, die Müntefering nicht wehtun wollen. Und Benneter ist der richtige Mann für die gedankenfreien Worthülsen der Parteiprofis. „Bitter“ nennt er das Europawahlergebnis, da sei „nichts zu beschönigen“, eine „klare Niederlage“ eben. Dann dankt er Martin Schulz, dem sozialdemokratischen Spitzenkandidaten, den kaum einer kennt, für seinen engagierten Wahlkampf und stellt leidenschaftslos fest, dass auch die SPD in Thüringen für die Bundespolitik abgestraft worden sei.
Aber bei Benneter klingt bereits das Argumentationsmuster an, das Franz Müntefering bei seinem späten Auftritt gegen halb acht dann auch aufnimmt: Der SPD sei es nicht gelungen, ihre Stammwähler zu mobilisieren. „Unsere ehemaligen Wähler bleiben zu Hause“, sagt Benneter, und fügt, etwas hoffnungsfroh, hinzu: „Aber sie gehen auch nicht zur Union.“ Darin liege eine gute Chance, diese Wähler zurückzuholen. Eine mögliche Korrektur „aus eigener Kraft“ nennt er das.
Müntefering spitzt das später sogar noch zu. Es konstatiert besorgt eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik, setzt aber genau dort an, um seinen Genossen wenigstens einen Ausweg aus der Krise zu weisen. Die SPD dürfe jetzt bei ihrer Reformpolitik nicht wackeln, sagt Müntefering, sie müsse die lange Durststrecke durchwandern, um das Vertrauen ihrer Wähler irgendwann zurückzugewinnen. Wie lange das dauern kann? Weiß er natürlich auch nicht. Aber der Münte-Effekt, der die Partei aus dem Dauertief führen soll, hat seit gestern ein neues Haltbarkeitsdatum: Herbst 2006. Der Tunnelblick der SPD-Spitze reicht jetzt bis zur nächsten Bundestagswahl. Die heiße Phase für die große Kraftprobe mit Angela Merkel, darauf weist das Müntefering-Lager schon mal vorsorglich hin, beginne erst im Sommer in zwei Jahren.
Die Gemütslage des grünen Koalitionspartners ist da ganz anders. „Wir sind weder im Osten noch bei der Europawahl für unsere Regierungspolitik abgestraft worden“, sagt die grüne Parteichefin Angelika Beer auf der Wahlparty in Berlin mit einem Strahlen. Anders als bei früheren Wahlen zeigten die Parteivorsitzenden nicht einmal Mitleid mit den Genossen. Auf die Frage, wie er sich das schlechte Ergebnis des Koalitionspartners denn erkläre, grinst Parteichef Reinhard Bütikofer bloß. Er wolle das heute niemandem erklären. „Wir werden uns den ganzen Abend freuen.“ Ein zweistelliges Ergebnis bei der Europawahl, das beste bundesweite Ergebnis, das die Grünen jemals erzielt hätten, bestätige „unsere kühnsten Träume“.
Als vor knapp zwei Wochen die Umfragewerte für die Grünen auf bis zu 14 Prozent kletterten, war Bütikofer ein wenig erschrocken, denn solche Umfragen seien schlecht fürs Wahlergebnis. Doch gestern dann demonstratives Strahlen in die Kameras, man sei der eigentliche „Gewinner der Europawahl“ – und weder Bütikofer noch Beer wollen sich in die Depression der SPD mit hineinziehen lassen. Nicht einmal Daniel Cohn-Bendit, der sonst immer für einen Kommentar zu haben ist, lässt sich zu einem Satz über die SPD hinreißen.
Doch bei vielen grünen Parteianhängern ist die Stimmung an diesem Abend deutlich schlechter, vor allem weil die Grünen in Thüringen irgendwo zwischen 4 und 5 Prozent liegen – je nach Hochrechnung. Die Chance, die Partei wieder in einen ostdeutschen Landtag zu bringen, ist wohl verspielt worden. Am Ende ist es egal, dass die Grünen „den positiven Trend im Osten“ (Beer) fortsetzen konnten.