Blauer als Samt war die Nacht
Schöne Stimmen

David Lynchs „Blue Velvet“ kommt wieder ins Kino. Fünf Autoren und Autorinnen erinnern sich an den Kultfilm aus dem Jahre 1986, der das Unheimliche im Grün des Kleinstadtrasens fand. Lynchs Oberflächenreize verstand damals nicht jeder, doch das war dem Film egal: Die neue Ästhetik setzte sich fest

„Blue Velvet“ ist der erste Film David Lynchs mit einem Soundtrack, dessen Texte Bestandteil der Story werden, aber auch eine ganz eigene, nicht bis ins Letzte integrierbare Geschichte erzählen. Diese Songs verbindet vor allem eines: ihr schmachtender, beinahe artifiziell perfekter Gesang, wie er nur im Amerika der goldenen Fünfziger- und Sechzigerjahre entstehen konnte. Auf beunruhigende Weise kontrastiert er mit den entstellten Stimmen der schwachen Vaterfiguren, mit dem amorphen Röcheln des echten Vaters von Jeffrey, als er nach der Herzattacke im Krankenhaus liegt, und mit den pfeifenden Atemgeräuschen des symbolischen, des schrecklichen Vaters Frank Booth (Dennis Hopper), wenn er sich Helium zuführt und die Stimme eines verzückten Kindes annimmt.

Von diesen verzerrten Stimmen setzten sich all die schönen Stimmen im Film seltsam ab. Zuallererst die Stimmen von Bobby Vinton, der „Blue Velvet“ singt, und von Isabella Rossellini, der symbolischen Mutter, die als Dorothy im Nachtclub dieses Lied immer wieder aufnimmt. Auf der Bühne entwickelt Dorothy ihre größte Anziehungskraft. Sie hört sich singen, ist ganz bei sich, träumt den Traum von der Stimme, die noch nicht in Bedeutung aufgegangen ist und Wirklichkeit manipulieren kann.

Einmal mimt ein tuntenhaft auftretender Mann Roy Orbison und tut, als sänge er dessen Song „In Dreams“. Zunächst scheint Frank diese Performance nicht zu gefallen, aber später beansprucht er die Vergewaltigungsfantasie für sich und bedroht Jeffrey (Kyle MacLachlan), indem er ihm immer wieder Zeilen aus diesem Song vorspricht: „In dreams I walk with you, in dreams I talk with you“. Er versucht, die Macht der Stimme an sich zu reißen und die Träume Jeffreys zu besetzen. Darin wohnt aber längst Dorothy. Auch die harmlose Melodie eines weiteren Liebeslieds verkehrt sich im Zusammenspiel mit der Szenerie in ihr Gegenteil. „Love letters straight from your heart“, spricht Frank die Zeilen von Ketty Lester nach und kündigt damit an, Jeffrey eine Kugel in den Kopf jagen zu wollen. Aber Frank vermag nicht zu singen. Seine Drohung ist die Ankündigung seines Niedergangs. SUSANNE MESSMER

Offener Hohn

Im Berliner Delphi-Kino irgendwann Ende der Achtziger: Ein Freund und ich schauen uns endlich diesen Film an, von dem die Kritk schon Wochen vor dem Start ein großes Gewese machte. Zwischen Grashalmen erscheint ein Ohr in Großaufnahme. Im Kino macht sich lustvoller Ekel breit. Als sich Dennis Hopper in der Rolle des durchgeknallten Sex- und Drogenfreaks auf Isabella Rossellini wirft, verspürt man in den umliegenden Reihen leichte Erheiterung. Später, wenn Laura Dern, das von so viel Perversion überforderte All American Girl, vor Schreck ihr Gesicht zur Fratze verzieht, kippt die Stimmung im Saal endgültig: offener Hohn für David Lynchs „Blue Velvet“. Mit den grellen psychosexuellen Oberflächenreizen dieses Kinos konnten wir damals nichts anfangen, und die Referenzen, die in Lynchs ironischen Bildwelten mitschwangen, kapierten wir einfach noch nicht.

Während Filmklassiker beim zweiten Sehen oft an Aura und Erinnerungserotik verlieren und man die frühere Begeisterung auf pubertäre Hormonschwankungen schiebt, lagen die Dinge bei „Blue Velvet“ komplizierter. Der Film hat uns beeindruckt, ohne dass wir es merkten. Unser Geschmacksurteil war ihm egal. Die neue Ästhetik kroch einfach in unsere Hirnwindungen, setzte sich fest und blieb. ANKE LEWEKE

Die kleine Stadt

Strahlend blau wölbt sich der Himmel über den frisch getünchten Palisadenzäunen, gepflegten Rasenflächen und malerischen Blumenbeeten: Lumberton ist eine der schrecklich schönen Kleinstädte, wie David Lynch sie liebt und nach „Blue Velvet“ in Filmen wie „Twin Peaks“, „Wild at Heart“ und „Straight Story“ immer wieder übertrieben realistisch in Szene gesetzt hat.

„It's a strange world“, sagt Jeffrey zu Sandy (Laura Dern), als er mit ihr in der Dämmerung durch die aufgeräumten Straßen geht, und es wird nicht mehr lange dauern, bis die Nacht beginnt und er in der Wohnung der Nachtclubsängerin Dorothy Vallens die dunkle Seite Lumbertons kennen lernt. Die Vorstellung, dass unter der idyllischen Oberfläche ein grausames Geheimnis verborgen liegt und die amerikanische Kleinstadt der Nährboden des Unheimlichen ist, hatte damals Konjunktur: „Es hat den Eindruck, als gedeihe das Böse auf dem Boden dieser Stadt besonders gut“, schreibt Stephen King zum Beispiel an einer Stelle in seinem Roman „Es“, der 1986 erschien, im gleichen Jahr also, in dem „Blue Velvet“ in die Kinos kam. Der Clown Pennywise, der in Kings Kleinstadt Derry die Kinder in die Kanalisation herablockt, könnte als candy-coloured clown unmittelbar dem Soundtrack von „Blue Velvet“ entsprungen sein.

Am auffälligsten ist der versöhnliche Ton, den der Roman und der Film beide zuletzt anschlagen. „Der Kreis muss sich schließen“, heißt es in „Es“. So können die Protagonisten den Kampf mit dem Bösen erst gewinnen, nachdem sie nach Derry zurückgekehrt sind, und „Blue Velvet“ endet verstörenderweise damit, dass die verletzten Seelen sich unter dem Dach von Jeffreys Elternhaus zu einer harmonischen Großfamilie zusammenfinden. Das ist die eigentliche Horrorvorstellung, die sich nicht nur in Amerika mit dem Leben in einer Kleinstadt verbindet: Dass man nur hier seinen Frieden finden wird. KOLJA MENSING

Rotkehlchen

Wenn auch Kitsch, Tonspurbrummen und nächtliche Highway-Impressionen zu David Lynchs wichtigsten Stilmitteln zählen, wird sein Humor meist sträflich übersehen. Bei „Blue Velvet“ kam der Witz sogar nicht nur innerhalb der eigentlichen Story zum Tragen, sondern erblühte bereits während der Produktion zu geradezu anekdotischer Pracht. Dabei ist besonders das Detail hervorzuheben, das Lynch seine damalige Gattin Isabella Rossellini – die bis zum Zeitpunkt der Dreharbeiten als Model weltbekannt war – dazu zwang, sich in für ein Model unüblicher Weise dick zu futtern, um schließlich nackt eine Straße herunterzurennen. Natürlich hatte die Szene gar keinen Sinn.

Weil aber „Blue Velvet“ wie ein Weihnachtsbaum mit Kugeln mit zutiefst sinnfreien Szenen dekoriert war, fiel das lustigerweise nicht auf. Und da Lynch seine Darsteller auch noch dazu anhielt, nach Kräften zu chargieren, nahmen nur wenige von gnadenlosem Geschwafel der Figuren Notiz. Jeffrey zu Sandy: „Du bist ein feines Mädchen.“ Sandy zu Jeffrey: „Du auch.“ Jeffrey später: „Ich sehe etwas, das für immer verborgen war. Ich bin inmitten eines Rätsels, und es ist ein Geheimnis.“ Sandy: „In der Nacht, in der ich dich traf, hatte ich einen Traum. In dem Traum sah man unsere Welt, und die Welt war dunkel, weil es keine Rotkehlchen gab, denn die Rotkehlchen bedeuteten Liebe. Und für die längste Zeit war es dunkel. Und plötzlich wurden tausende von Rotkehlchen freigelassen und sie kamen geflogen, und sie brachten dieses strahlende Licht der Liebe. Und es schien, als würde die Liebe die Welt verändern. Also denke ich, dass es Ärger gibt, bis die Rotkehlchen wieder geflogen kommen.“

„Blue Velvet“ ist in diesem Sinne eine der unterschätztesten Komödien der Filmgeschichte. Dass sich Lynch nach der Oscar-Nominierung zuallerst bei Woody Allen bedankte, nahm seinerzeit mal wieder keiner ernst.

HARALD PETERS

Das Schlüsselloch

Die Schlüsselszene des Films geht so: Jeffrey spioniert in der Wohnung der Nachtclubsängerin Dorothy Vallens herum und versteckt sich im Schrank, als sie überraschend heimkommt. Dann kommt der böse Frank, sie muss sich ausziehen. Gebannt guckt er auf ihre Möse, sagt „Mama“ und dass sie ihn nicht angucken dürfe, während er sie anguckt. Wenig später bläst Dorothy Jeffrey einen und sagt auch ihm, dass er sie nicht angucken dürfe. Noch später bringt sie ihn dazu, sie zu schlagen beim Sex.

Die düsterromantische Welt der Sexualität in „Blue Velvet“ liegt fernab aller beruhigenden Vereinigungsfantasien. Zunächst scheint es logisch, dass Frank nicht angeguckt werden will. Wie jeder Perverse inszeniert er ein Kindheitsding: der kleine Junge vor dem Schlüsselloch. Das Verbot wird in seiner Überschreitung bestätigt, um Lust zu erzeugen. Ein Blick von ihr würde ihn aus seiner Fantasie reißen. Andererseits: Wenn er Sadist wäre, müsste Frank doch den Blick seines Opfers genießen. Grübel, grübel.

Auch später sagt Frank: „Guck mich nicht an.“ Jedem Satz gibt er ein fuck mit auf den Weg. Wer den Film mochte, machte das auch eine verfickte Weile so. Eine Freundin, mit der ich über die Szene sprach, verstand sie so wenig wie ich und erzählte von einem 80er-Jahre-Freund, der wollte, dass man ihn auf seinen Penis schlug. DETLEF KUHLBRODT

„Blue Velvet“. Regie: David Lynch. Mit Kyle MacLachlan, Laura Dern, Dennis Hopper, Isabella Rossellini u. a., USA 1986, 120 Minuten