: Die Neue Mitte färbt sich grün
Den Grünen fällt die tragende Rolle in der Koalition zu. Sie haben ihre konfliktträchtigen ideologische Kontroversen hinter sich und sind fürs Milieu der Leistungsträger attraktiv
Es gehört zu den Paradoxien des gegenwärtigen Reformprozesses, dass sich der geballte Unmut der Bevölkerung über die SPD entlädt – wohingegen die Grünen und die Union sich eines unerwarteten Zuspruchs erfreuen können. Dabei wollen Erstere die Reformprozesse eher noch forcieren, und Letztere streben einen noch radikaleren Umbau der Systeme sozialer Sicherung an. Die Wahlergebnisse vom Wochenende haben dieser Paradoxie auf eine für die gedeihliche Weiterarbeit der Regierungskoalition unangenehme Spitze getrieben. Nun stellt sich nicht mehr die Frage, wer der Koch und wer der Kellner ist. Das Problem lautet vielmehr, was unter diesem Label in den nächsten Jahren serviert werden soll.
Der Überdruss an der Regierung Schröder lässt sich nicht allein mit der vermeintlichen Verletzung der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit erklären. Der Umbau der Gesellschaft wird zwar nicht begrüßt, aber weitgehend als unausweichlich hingenommen. Ein solcher drohender sozialer Wandel weckt jedoch das Bedürfnis nach Führung, dem die SPD augenscheinlich nicht Rechnung tragen kann, weil ihre Politik bereits in den eigenen Reihen auf Widerspruch stößt. Für die Volkspartei SPD wird es zunehmend zur Existenzfrage, ob sie ihre Politik widerspruchsfrei in eine nach vorn offene sozialdemokratische Erzählung einweben kann. Vor diesem Hintergrund profitieren die Grünen als Koalitionspartner von einer, gemessen an ihrer Geschichte, eher untypischen Geschlossenheit in Auftreten und Programmatik. Ihnen kommt zugute, dass sie ihre konfliktträchtigen ideologischen Kontroversen bereits in den zurückliegenden Jahren ausgetragen haben und dass sie nicht direkt verantwortlich in das operative Geschäft des Sozialumbaues eingebunden sind. Dieses Weniger an faktischer Gestaltungsmacht ist der leicht zu verschmerzende Preis für ein von Partikularinteressen und ideologischen Fixierungen unbeflecktes Erscheinungsbild. Die Grünen sind auch in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer etablierten Partei mit umfassender Lösungskompetenz geworden. Das hat sie attraktiv gemacht für sozialdemokratische Wechselwähler.
Im unterschiedlichen Ansehen der beiden Regierungsparteien kommt jedoch auch eine tiefere Schicht politisch kultureller Differenz zum Tragen. Das Engagement der Grünen hat sich ursprünglich aus einem Sensorium für die Verletzung sozialer Lebenswelten heraus entwickelt. Andererseits waren sie immer relativ gleichgültig gegen die Erfolge, die die SPD in den gesellschaftlichen Verteilungskämpfen erzielte. Die postmaterialistische Verachtung, die sie dabei zeigten, war jahrelang der Quell, aus dem sich der sozialdemokratische und vor allem der gewerkschaftliche Groll gegen die Grünen speiste.
Unter den Bedingungen einer sich transformierenden Gesellschaft gewinnt die Politik der „Anerkennung“ ungeahnte Aktualität. Lag der Fokus der Grünen früher auf kulturellen und ethnischen Minderheiten, den „Randgruppen“, so hat er sich hin zu den neuen gesellschaftlichen Kernkonflikten verschoben. Auf die Phänomene der Exklusion vermögen die typisch sozialdemokratischen verteilungspolitischen Konzepte hingegen keine kohärente Antwort mehr zu geben. Der Korporatismus wird hier zum schwerfälligen Hemmnis. Exklusion ist eine schichtenübergreifende Bedrohung. Eine Politik der Anerkennung, die sich als dafür sensibel erweist und ihre Leitbilder nicht von der alten Arbeitsgesellschaft abzieht, zugleich aber die Differenzen und Distinktionen achtet, erweist sich gerade in den Milieus der Leistungsträger als attraktiv. Deshalb hat das, was Gerhard Schröder vor fünf Jahren mit Tony Blair als Politik der Neuen Mitte proklamierte, mittlerweile eine grüne Färbung erfahren. Die Leistungsträger sind zu den Grünen gewechselt.
Nichts kennzeichnet die Verschiebung der politischen Tektonik deutlicher als das Wahlverhalten in den großen Städten. Dort stehen sich vielerorts mit den Grünen, der SPD und der Union drei gleichgewichtige Kräfte gegenüber. Bereits kurz nach der Bundestagswahl 2002 hat die CDU-Vorsitzende Angela Merkel richtig erkannt, dass die Union vor allem in den großstädtischen Milieus, bei den Frauen und den Alten verloren haben, weil es den eigenen Botschaften an Wertebezug fehlt. Merkel machte konsequenterweise die Grünen als den Antipoden der Union aus. Und konsequenterweise erzielte die Hamburger CDU ihren Wahlerfolg, indem sie dieses „grüne“ Milieu offensiv ansprach. Es ist, wie der stellvertretende CDU-Vorsitzende Jürgen Rüttgers es formulierte, ein Kampf um die kulturelle Hegemonie, der zwischen der Union und den Grünen ausgefochten wird. Es ist ein Kampf, bei dem die Union zwar die stärkeren Bataillone, aber auch das größere Handikap hat. Denn sie muss in ihren Reihen die neue Offenheit für Entwurfsbiografien und kulturelle Differenz mit den auf Homogenisierung zielenden Traditionen ihrer Partei verbinden.
Politiker sind Repräsentanten kultureller Hegemonie – nirgends wird das deutlicher als bei der Dauerdebatte um die 68er. Die Regierung wird gerne eine der 68er genannt. Damit wird allerdings eine entscheidende Differenz zwischen der SPD und den Grünen kaschiert. Denn während die Führungsspitze der SPD durchgängig von den Jahrgängen 40–44 gestellt wird, sind die Spitzenkader der Grünen und der Union im Schnitt zehn Jahre jünger. Wenn Gerhard Schröder demnächst zum Mittel des Personalaustauschs greift, um die aktuelle Krise der SPD zu überwinden, wird er in dieser Altersklasse kaum jemanden in seiner Partei finden. Die Nachwuchskader der SPD sind einige Jahrgänge jünger. Die Kontinuität von Rot-Grün, die Gerhard Schröder über 2006 hinaus anstrebt, wird – sofern es dazu kommt – folglich stark von den Grünen geprägt sein. Schon jetzt wäre es eine logische Konsequenz aus den Wahlergebnissen, ihnen (auch personell) einen größeren Stellenwert einzuräumen. Damit würde die Regierung zwar auf Kosten, aber nicht unbedingt zum Schaden der SPD stabilisiert.
Der angepeilten Kontinuität fehlt allerdings das konzeptionelle Unterfutter. Der Begriff „Rot-Grün“ war als Kennzeichnung der Regierungspolitik bereits nach der ersten Legislaturperiode ausgelaugt. Eine Reformulierung unter den veränderten Bedingungen einer Transformationsgesellschaft wurde nicht in Angriff genommen. Und selbst dort, wo die gemeinsame Praxis noch am ehesten diesen Begriff gerechtfertigt hätte, in der Außen- und Sicherheitspolitik nach dem 11. 9. 2001, hat man sich nicht der intellektuellen Mühe unterzogen, programmatische Schlüsse zu ziehen.
Rot-Grün bestimmte als überfrachtetes Generationenprojekt mehr als ein Jahrzehnt die politische Orientierung beider Parteien. Als solches ist es erledigt. Vielleicht wäre es an der Zeit, die Schnittmengen neu zu vermessen. Schon damit der Wähler einen Begriff bekommt, was ihn in einem rot-grün regierten Deutschland 2010 erwarten würde. DIETER RULFF