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Archiv-Artikel

„Das Europaparlament ist nicht wichtig“

Die Wahlbeteiligung in Osteuropa lag bei 28 Prozent. Der Erfolg der Euroskeptiker heißt nicht, dass viele schon wieder rauswollen aus der EU

BERLIN taz ■ Der polnische Präsident Aleksander Kwaśniewski war zunächst ratlos, als er am Sonntagabend erfuhr, dass nur 21 Prozent seiner Landsleute zur Europawahl erschienen waren. Dann kleidete er seine Ratlosigkeit in deutliche Worte: Die Frage sei, warum Polen, das doch immerhin den Kommunismus besiegt habe, sich so weit von der Zivilgesellschaft entfernt habe.

Ähnliche Fragen müssen sich wohl auch Politiker überall im östlichen Neueuropa stellen. Bei der Wahl am Sonntag herrschte von Estland bis Slowenien Rekordabsenz. Im Schnitt gingen in den acht neuen EU-Ländern nur 28 Prozent der Bürger zur Wahl, am niedrigsten lag die Wahlbeteiligung in Polen und der Slowakei: Gerade einmal 21 und 17 Prozent gingen dort an die Urnen. „Die Europawahlen sind etwas ganz Neues“, rechtfertigte der tschechische Politologe Dolezal die niedrige Wahlbeteiligung. „Die meisten Tschechen sind gar nicht gegen die EU, aber sie finden das Parlament nicht wichtig.“

Die wenigen Abstimmungswilligen nutzten die Gelegenheit halb, um antieuropäische oder zumindest europaskeptische Parteien zu wählen, halb zu innenpolitischen Abrechnungen. Dabei erlitten die Regierungsparteien Niederlagen, zum Teil drastische.

In Polen etwa kamen die EU-Gegner und -Skeptiker zusammen auf eine deutliche Mehrheit, darunter die stramm rechtsnationale und EU-feindliche Familienliga, die ebenfalls antieuropäische Bauernpartei Selbstverteidigung und die EU-skeptische Partei Recht und Gerechtigkeit. Ähnlich das Bild in Tschechien: Ein Drittel der Wähler stimmte für die konservative ODS mit ihrem EU-kritischen Ehrenvorsitzenden Staatspräsident Václav Klaus.

Auch in allen drei baltischen Staaten wurden die Regierenden abgestraft. In Lettland siegten die EU-Gegner und Nationalisten von der Vaterlands- und Freiheitspartei, in Litauen ließ die erst vor einigen Monaten gegründete populistische Partei der Arbeit die etablierten Parteien weit hinter sich.

Während sich sowohl in Polen und Tschechien als auch in den baltischen Staaten Regierungswechsel anbahnen, gab es einzig in Ungarn, der Slowakei und in Slowenien halbwegs ausgeglichene Wahlergebnisse, obwohl auch dort die Regierenden Denkzettel erhielten. In Ungarn siegten die oppositionellen Nationalkonservativen, die gerne mit EU-feindlichen Sprüchen auftreten, deutlich vor den regierenden Sozialisten. In Slowenien überholten die Christlich-Konservativen die regierenden Liberalen, in der Slowakei erzielten zwei linkspopulistische, EU-skeptische Parteien jeweils 17 Prozent, während die regierenden Christdemokraten nur auf 17 Prozent kamen.

Es ist vor allem die weit verbreitete Politikmüdigkeit in den östlichen EU-Ländern, die zu diesen Ergebnissen beigetragen hat. Schon bei den Beitrittsreferenden haben viele Wähler ihr Ja-Votum nur mit einer gehörigen Portion Skeptizismus abgegeben. Auch am 1. Mai, dem Tag des Beitritts, kam bei vielen keine Euphorie auf. Zwar hat es seither nirgendwo einen Preisschock gegeben, doch die Angst vor einem weiteren Reformjahrzehnt, das der EU-Beitritt mit sich bringen wird, überwiegt die Freude über offene Grenzen. Drastisches Beispiel ist Estland: Während seine Regierung im Ausland wegen ihrer ultraliberalen Politik und ihrer hochmodernen IT-Projekte als Vorbild dasteht, lebt ein Fünftel der Esten an der Armutsgrenze, und außerhalb der reichen Hauptstadt Tallinn gibt es regelrechte postsozialistische Elendsghettos.

Auch die Wahlkampagnen im Osten waren nicht dazu angetan, die Bürger an die Urnen zu holen: Vielerorts ging es nicht um Europa, sondern um Innenpolitik. Oder aber um inhaltsfreie Prominenz: In Tschechien trat der Kosmonaut Vladimír Remek für die Kommunisten an, in der Slowakei der ehemalige Eishockeyspieler Peter Štastny.

Ein Alarmzeichen dürften die östlichen Wahlergebnisse auch für Brüssel sein, wie der ungarische Politologe Béla Galló meint. „Zwischen der Zahl der abgegebenen Stimmen und der Bürgernähe der EU besteht ein proportionaler Zusammenhang“, so Galló, „die EU hat einfach eine sehr schwache Legitimation von Bürgerseite.“ KENO VERSECK