: Aus den Gleisen geraten
S-Bahn und Land streiten um einen neuen Vertrag. Der Senat will weniger zahlen und stattdessen die BVG stärker stützen. Als Reaktion droht die S-Bahn unterschwellig damit, Teilstrecken stillzulegen
von STEFAN ALBERTI
Auf 255 Kilometern fahren S-Bahnen durch Berlin. Das ist etwa so weit wie vom Alex nach Rügen. Bald könnten es weniger sein, droht die S-Bahn GmbH unterschwellig, falls es weniger Geld vom Senat gibt. Um im Bild zu bleiben: Weit vor Stralsund wäre Schluss. Was für den Bund für Umwelt und Naturschutz einer Katastrophe gleichkäme, ist bisheriger Höhepunkt im Streit um einen neuen Vertrag mit dem Senat – der alte lief schon Ende 2001 aus. Offiziell mag man in der Firmenzentrale in der Invalidenstraße nichts zu Stilllegungsplänen sagen. Aber es gibt auch kein Dementi. „Das kommentiere ich nicht“, sagt Sprecher Ingo Priegnitz nur. Eine Einigung scheint nicht in Sicht.
In der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung von Peter Strieder hofft man zwar, einen neuen Vertrag „mit Glück Mitte, Ende August“ eingetütet zu haben. Laut S-Bahn-Mann Priegnitz aber gibt es keine Termine für entscheidende Gespräche. Nicht mal grob schätzen mag er, wann die Sache geklärt ist. Auch Christian Gaebler, üblicherweise gut informierter parlamentarischer SPD-Geschäftsführer, weiß nur von vertagten Verhandlungen und einer Pattsituation.
Rund 230 Millionen Euro jährlich zahlt das Land bisher dafür, dass die S-Bahn, Tochter der Deutschen Bahn, ihre Züge in die Spur schickt. Der Senat muss dazu nicht in die eigene Kasse greifen, er erhält das Geld als „Regionalisierungsmittel“ für den Schienennahverkehr vom Bund. Nun aber will der Senat über ein Fünftel davon streichen – 48 Millionen – und stattdessen in die landeseigenen Verkehrsbetriebe BVG stecken.
Für S-Bahn-Sprecher Priegnitz ist klar: Mit weniger Geld ist der bisherige Betrieb nicht aufrechtzuerhalten. Allein weniger Fahrten könnten das nicht ausgleichen. Auf der Kippe stehen deshalb angeblich die Wannseebahn S 1 ab Schöneberg und das Südende der S 25 ab Priesterweg.
Die Stadtentwicklungsverwaltung mag an Stilllegung nicht glauben. Dort geht man vielmehr von überteuerten Zahlungen an die S-Bahn aus. „Wir haben das Gefühl, dass wir in den vergangenen Jahren über den Tisch gezogen worden sind“, sagt Sprecherin Petra Reetz. „Die Kalkulationen sind uns in vielen Fällen nicht plausibel.“
Die Möglichkeit, zu viel zu zahlen, hatte bei Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) schon vor Wochen einen Beißreflex ausgelöst: Er ließ die Juni-Rate an die S-Bahn nicht überweisen. Das sollte ein Vorgriff auf einen zukünftigen, geringer dotierten Vertrag sein. Der Zahlungsstopp rief Protest nicht nur bei der Bahn hervor, die einen einmaligen Vorgang sah und rechtliche Schritte prüfen wollte. Auch Senatskollege Strieder sprach von einer „Nacht- und Nebel-Aktion“: Bestellte Leistungen müssten bezahlt werden. Zwar gibt es derzeit keinen Vertrag, aber einen schriftlichen Auftrag. Sarrazin zahlte schließlich doch.
Aus dem Abgeordnetenhaus wähnte CDU-Verkehrsexperte Alexander Kaczmarek den Finanzsenator auf „S-Bahn-Geisterfahrt“: Er gefährde den öffentlichen Nahverkehr in Berlin. Die FDP-Fraktion wendet sich vor allem dagegen, die BVG zusätzlich zu subventionieren. In der Grünen-Fraktion hält man es durchaus für möglich, dass die S-Bahn für das gleiche Streckennetz mit weniger Geld auskommen kann.
SPD-Experte Gaebler spricht zwar von einer „haltlosen Drohung mit Streckenstillegungen“, kann sich aber nicht vorstellen, dass die S-Bahn mit 48 Millionen weniger auskommt. Für möglich hält er – mit Verweis auf die Hamburger S-Bahn – eine Summe deutlich unter der Hälfte dieses Betrags. Von Sarrazin verlangt Gaebler „dringend“ Klärung, dass die Verschiebung von Mitteln zur BVG kein Eigentor ist. Anders als vom Finanzsenator behauptet, würde kein anderes Bundesland so verfahren: „Berlin betritt hier Neuland.“ Überhaupt solle Sarrazin sich nicht in die Verkehrspolitik einmischen.
Neben Gaebler befürchtet auch der Fahrgastverband Ibeg, dass der Senat Zuschüsse riskiert: Der Bund könnte bei der nächsten Revision – spätestens 2007 – wegen der Aufteilung auf S-Bahn und BVG seine Mittel kürzen. Dass der Senat überhaupt Regionalisierungsmittel abzweigen kann, ist für Ibeg-Vorstand Christfried Tschepe nur dank einer „windelweichen Klausel“ möglich.
Tschepe sieht den Senat in der Pflicht gegenüber der S-Bahn: Die habe stark investiert, bekommt etwa bis 2004 nach eigenen Angaben 1.000 Wagen geliefert. Bei Kürzungen bleibe sie auf ihren Kosten sitzen. Für Tschepe nicht akzeptabel: „Der Senat verhält sich da schlicht unseriös.“