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Archiv-Artikel

Die EU-Chefs üben den Kniefall

Bei der Wahl des EU-Kommissionspräsidenten müssen die Regierungschefs auf die Machtverhältnisse im neuen Europaparlament Rücksicht nehmen

AUS BRÜSSELDANIELA WEINGÄRTNER

Die Wähler haben das Europaparlament links liegen lassen. Dennoch müssen die Regierungschefs heute beim Gipfel die parlamentarischen Kräfteverhältnisse berücksichtigen, wenn sie den neuen Kommissionspräsidenten küren. Zum einen werden sie sich nicht den Vorwurf einhandeln wollen, den Willen derjenigen Wahlberechtigten zu ignorieren, die zur Urne gegangen sind. Zum Zweiten muss der Favorit des Rates am 20. Juli in Straßburg von einer Mehrheit des Parlaments bestätigt werden.

Das gute Wahlergebnis der Grünen hat Daniel Cohn-Bendits Lust auf Europa deutlich wiederbelebt. In Brüssel tauchte er gestern mit einem Sack voll kühner Ideen auf, die sowohl die Geheimabsprachen der Regierungschefs im Vorfeld des Gipfels als auch die Deals der großen Fraktionen im Europaparlament kräftig aufmischen könnten. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass die Parteien links von der Mitte weitaus mehr gemeinsame Interessen haben als Konservative und Sozialisten oder Konservative und Liberale. Sollte der Franzose François Bayrou tatsächlich seine neue proeuropäische Zentrumspartei gründen und sich im Europaparlament mit den Liberalen und dem italienischen Mitte-links-Bündnis von Romano Prodi zusammenschließen, eröffnen sich nach Cohn-Bendits Überzeugung völlig neue Spielräume.

Die Grünen haben den Taschenrechner gezückt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass sie gemeinsam mit Sozialisten, Liberalen, der Bayrou-Partei und den Kommunisten nur sieben Sitze von der absoluten Mehrheit entfernt sind. Dieses Szenario setzt voraus, dass die konservative EVP, mit 276 von 732 Sitzen stärkste Kraft im neuen Parlament, keine Bündnispartner gewinnen kann. Zumindest in den nun anstehenden Personalfragen ist das keine unrealistische Spekulation.

Wer ist Pöttering?

Der Postendeal, der sich nach Gesprächen zwischen Liberalen und Konservativen herauskristallisiert, ist weniger attraktiv als das Mitte-links-Modell. Luxemburgs Jean-Claude Juncker weigert sich weiterhin standhaft, neuer Kommissionspräsident zu werden. Er fühlt sich an sein Wahlversprechen gebunden, fünf volle Jahre Premierminister zu bleiben.

Ein anderer akzeptabler Kandidat aus den Reihen der Konservativen ist aber nicht in Sicht. Also läuft derzeit alles auf den liberalen belgischen Regierungschef Guy Verhofstadt zu. Im Gegenzug für dieses Geschenk an die Liberalen verlangen die Konservativen, dass ihr Fraktionsvorsitzender Hans-Gert Pöttering fünf Jahre lang Präsident des EP wird. Der arme Hans-Gert, der vor einigen Tagen schon von Joschka Fischer ob seiner fehlenden Popularität verspottet wurde, musste sich gestern Ähnliches von Cohn-Bendit anhören: „Wer ist dieser Hans-Gert Pöttering? Aus diesem Europaparlament erreicht in Deutschland nur einer bei Umfragen Bekanntheitspunkte – und das bin ich.“

Ein zwar arroganter, aber wahrer Satz. Hans-Gert Pöttering ist ein überzeugter Europäer ohne jegliches Charisma, der seine politische Laufbahn in Straßburg und Brüssel verbracht hat. Um dem Europaparlament mehr Profil zu verschaffen, will Cohn-Bendit den Sozialisten Michel Rocard für die erste Halbzeit auf den Schild heben. Gefragt, ob er sich danach auch einen Parlamentspräsidenten aus den neuen Mitgliedsländern vorstellen könnte, sagte er: „Polens Geremek natürlich. Für den würde ich mit größter Freude stimmen.“

Die Avancen der Grünen in Richtung sozialistische Fraktion haben die Konservativen aufgeschreckt. Die Vorstellung, als stärkste Kraft im hohen Haus plötzlich allein dazustehen und vielleicht auf die Stimmen der Antieuropäer oder der Ultrarechten angewiesen zu sein, ist ungemütlich. Elmar Brok sagte gestern zur taz, Hans-Gert Pöttering wolle zunächst gar nicht Parlamentspräsident werden. Er bewerbe sich wieder um den Fraktionsvorsitz. Michel Rocard sei für die ersten zweieinhalb Jahre ein denkbarer Kandidat der beiden großen Fraktionen. Mit Javier Solana bekämen die Sozialisten obendrein auch noch den Außenminister. Wenn sie im Gegenzug den konservativen Kommissionspräsidenten absegneten, sei das nur recht und billig – heiße er nun Wolfgang Schüssel, Chris Patten oder wie Portugals Regierungschef Durao Baroso.

Rocard-Juncker-Solana

Ein richtiger Sympathieträger – da ist sich Brok mit Cohn-Bendit einig – wäre aber nur Jean-Claude Juncker. Cohn-Bendit glaubt, dass sich die Regierungschefs heute in Brüssel auf keinen anderen Kandidaten einigen werden. „Wenn 24 Regierungschefs vor ihm auf den Knien liegen, dann werden die Luxemburger verstehen, dass sie ihn hergeben müssen.“ Diese Idee, dass Juncker aus Brüssel nach Hause fährt und seine Wähler bittet, zu Gunsten der Europäischen Sache vom Wahlversprechen entbunden zu werden, hält auch Elmar Brok „für gar nicht blöd gedacht“.

Dann würde mit dem Rocard-Juncker-Solana-Kompromiss eine gewaltige Harmonie über Europa hereinbrechen, Konservative, Grüne und neue Mitte wären gleichermaßen zufrieden gestellt. Nur Tony Blair lehnt Jun-cker ab, hat aber bislang keinen anderen mehrheitsfähigen Namen ins Spiel gebracht. Die Liberalen stünden mit leeren Händen da. Erst in zweieinhalb Jahren, wenn der Parlamentspräsident neu gewählt wird, ginge das Gerangel wieder los. Ob die Begeisterung der Europäer für Europa mit solchen Machtspielchen gesteigert werden kann, steht allerdings auf einem anderen Blatt.