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Archiv-Artikel

Lernen mit der Laus

Beliebt ist die Blattlaus nicht: Sie gilt uns als Schädling. Gerade saugen wieder Millionen an den Pflanzen der Stadt. Aber wir sollten sie nicht unterschätzen: Von der Laus lernen heißt siegen lernen

von OLIVER TRENKAMP

Eine „Blattlausinvasion“ sieht der Leiter des Berliner Pflanzenschutzamtes, Holger-Ulrich Schmidt, im Anmarsch: „Alles, was in dieser Richtung kreucht und fleucht, ist gut durch den Winter gekommen“, erklärte der Schirmherr des Stadtgrüns zu Beginn des Monats. Vor allem Obst-, Gemüse- und Zierpflanzen seien in Gefahr. Experten in Sachen „Aphidae“ betrachten den Befall in diesem Jahr nicht als überdurchschnittlich. Und sie wissen: Berlin könnte einiges von den winzigen Tieren lernen.

Dreck richtig beseitigen

Die Laus ist sauber. Zahlreiche Arten hausen dicht an dicht und zu hunderten auf der Wirtspflanze. Innerhalb weniger Tage würden sie in ihren Exkrementen ersticken, hätten sie nicht eine raffinierte Technik entwickelt: Ihre Ausscheidungen, den so genannten Honigtau, wickeln sie tröpfchenweise in eine wachsähnliche Substanz ein und rollen sie vom Blatt, wie der Cambridger Lausforscher Nathan Pike herausfand. Ihre klebrige Wirkung entfaltet die Substanz erst nach dem Aufprall auf die Straße.

Berlin hingegen tut sich schwer damit, seine kollektiven Ausscheidungen ordentlich zu entsorgen. Zwar besteht schon lange ein differenziertes System zur Mülltrennung, allein: die Praxis in Weddinger oder Lichtenberger Hinterhöfen sieht anders aus: Allet rin in die schwarze Tonne. Auf politischer Ebene haben die Entscheider der Stadt Jahre gebraucht, ein halbwegs sinnvolles Entsorgungskonzept zu verabschieden. Und bis 2005 kommt ein Gutteil der Abfälle immer noch unbehandelt auf Brandenburger Deponien.

Fürs Gemeinwohl sorgen

Die Laus nimmt nur, was sie braucht. Aus Blättern und Stielen saugt sie Pflanzensaft. Der enthält aber viele süße Kohlenhydrate, mit denen die Laus nichts anfangen kann: An ihnen – dem besagten Honigtau – laben sich Ameisen oder Bienen.

In diesem Punkt hat Berlin bereits vom Insekt gelernt. Funktionsträger der Stadt – etwa in den Vorständen von Wohnungsunternehmen oder Verkehrsbetrieben – pumpen übertarifliche Provisionen und Honorare auf ihre Konten. Dumm nur, dass das Geld erst mal dort bleibt.

Sich effizient vermehren

Die Laus ist fruchtbar. Sehr fruchtbar. Zur Fortpflanzung reicht ein Paarungsakt im Herbst. Dann vermehren sich die weiblichen Blattläuse über Generationen hinweg ohne Begattung: Sie tragen Eier in sich, die auch unbefruchtet entwicklungsfähig sind. Eine „Jungferngeburt“, erklärt Lausexperte Stephan Scheurer von der FU. Und die hat Vorteile: Die Population wächst rasant.

Berlin dagegen vergreist. Der Anteil der über 65-Jährigen steigt seit Jahren kontinuierlich, nur in wenigen Szenevierteln boomt das Fortpflanzungsgeschäft. Aber weil Autos nicht nur keine Autos kaufen, sondern auch keine Rentenbeiträge einzahlen, muss auch hier die Laus zum Vorbild gereichen: Berlin braucht Nachwuchs. Wachsenden Kitagebühren sind da kontraproduktiv.

Herrschaftsfrei leben

Blattläuse sind Anarchisten: von sozialer Ungerechtigkeit keine Spur, Hierarchien gibt es nicht. Alle haben dieselben Pflichten und Privilegien. „Es gibt keine Rangordnung“, sagt Scheurer.

In Berlin öffnet sich die soziale Schere immer weiter. Mehr als die Hälfte der Landeskinder lebt mittlerweile von staatlichen Transfers, und zwar mehr schlecht als recht. Aus historischen und kapitalismustheoretischen Gründen ist mit der baldigen Wiedereinführung des „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ vorläufig nicht zu rechnen.

Flüge professionell regeln

Die Blattlaus regelt ihren Flugverkehr streng bedarfsorientiert. Sobald das Nahrungsangebot knapp wird, bringen einige Arten geflügelte Nachkommen zur Welt. Die Generation X-Wing macht sich dann auf den (Luft)-Weg zu neuen Nahrungsquellen.

Chaotischer ist es in Berlin: Die Planung künftiger Flugbewegungen türmte Überkapazitäten auf, aber ein internationales Luftkreuz braucht niemand. Jetzt gibt es Streit, ob Tempelhof geschlossen werden darf. Und in Schönfeld purzeln die Preise ganz easy. Nur emissionsfrei wie die Blattlaus fliegt hier keiner.